eine Anti-Romanze, vielleicht

Da sind zwei. Der eine geht seinen Weg. Und der andere auch. Jetzt gibt’s nicht zwei auf dieser Welt, sondern 7.284.283.000. Das sind viele. Viel mehr als zwei. Und unendlich viele Wege. Jeder von diesen 7.284.283.000 geht einen. Und der eine von den zweien geht auch einen. Nämlich seinen. Auf seinem Weg läuft er täglich an 127 von denen vorbei. Vielleicht sind es auch 130. Er zählt sie nicht. Aber dann ist plötzlich einer von diesen 127 oder 130 der andere. Dessen Weg sich zufällig mit dem des einen kreuzt. Und der eine bleibt kurz stehen. Und beginnt zu überlegen. Und wenn der eine schon einmal zu überlegen beginnt, wird’s kritisch.

Der eine bleibt also stehen und schaut den anderen einen Moment lang an. Schaut ihm ins Gesicht, in die Augen, schaut ihm auf den Mund und die Hände. Er würde gern noch ein wenig weiterschauen, hinein ins Innere, aber das ist versperrt. Er schaut ihn an, als wäre der andere der erste Mensch, der ihm heute oder seit langer Zeit oder seit überhaupt jemals auf der Erde begegnet ist. Und irgendwie ist es auch so. Und der andere schaut nun auch, wie zufällig, erkennt er den einen unter den vielen anderen und schaut in derselben Reihenfolge an dessen Fassade entlang, die ihm gefällt. Er würde gern noch ein wenig weiterschauen, hinein in den einen, aber da ist gerade noch nichts zu machen. Deshalb lächelt der andere jetzt, lächelt dem einen ins Gesicht, weil das Lächeln, wenn überhaupt, der Schlüssel ist hinein in den einen.

Und hier beginnt nun alles. Hier liegt der Ursprung vom wahnsinnigen Pech. Wobei es, im Nachhinein gesehen, immer am Anfang beginnt. Aber weiter nun.

Der eine läuft also wieder geschäftig eine Straße entlang, einen Weg, den seinen. Und der andere macht es ihm gleich, nur läuft der in die entgegengesetzte Richtung, weg vom einen. Es gibt so viele Wege, die sich nie kreuzen, obwohl sie existieren. Aber irgendetwas stimmt plötzlich nicht mehr. Irgendetwas hat sich verändert. Zumindest für den einen. Die Welt scheint irgendwie verknetet, zusammengedrückt auf allen Seiten. Wie sein Kopf. Der plötzlich nur noch einen Weg kennt, nämlich den zurück zum anderen. Noch denkt er und überlegt und fragt sich, was ihn da so umleitet. Aber mit dem Kopf hat das alles längst nichts mehr zu tun. Dem anderen geht’s gleich, nur ist der noch uneinsichtiger. Er rennt unablässig durch die Gegend, um bloß nicht zurückzumüssen. Zum einen. Weil ihn das einengt. In gewisser Weise. Und verunsichert. In ebenfalls gewisser Weise. Und trotzdem kommen beide auf Umwegen irgendwann wieder am selben Ort an. Das ist kein Zufall, kann man nun sagen. Ganz bestimmt nicht. Und auch kein wahnsinniges Pech. Noch nicht. Oder schon längst. Aber weiter nun.

Der eine steht nun also vor dem anderen und lächelt jetzt auch, hat so etwas wie den Schlüssel in seiner Hand und bittet den anderen zu sich hinein. Das macht er nur, weil er gar nicht anders kann, weil es ihm unmöglich erscheint, den anderen auszusperren. Er bittet ihn hinein, nicht ins oberste Stübchen, sondern eine Etage tiefer. Und irgendwann später dann auch zwei Etagen tiefer, aber so weit sind wir noch nicht. Und der andere wagt vorsichtig ein paar Schritte in die Richtung des einen, zaghaft ist er, wieder einmal. Aber auch interessiert. Wie das eben so ist, wenn man in unbekannter Landschaft steht. Und nun sind sie sich ganz nah, der eine und der andere, nun sind sie eine kleine Welt für sich, die nichts kennt außer sie beide und die völlig ausreicht. Der eine ist ganz beglückt davon und der andere fühlt sich erstaunlich wohl. Und beide kommen gut miteinander zurecht. Es beseelt sie, in diesem Moment. Aber es verunsichert sie auch. Später dann. Vor allem aber verwandelt es den einen für den anderen in ein Gesicht, das eine Nase, ein Paar Augen und einen Mund hat, in ein richtiges Gesicht, als gäb’s das nur einmal auf der Welt, an dem man sich nicht satt sehen kann.

Und weil es an diesem Punkt nicht mehr ausreicht, nur zu schauen, greift der eine nun nach dem anderen, greift nach seiner Hand und eben diesem Gesicht, nach dem ganzen Menschen dahinter, dem einzigen unter den 7.284.283.000, genau nach ihm. Die anderen 7.284.282.999 (einschließlich seiner selbst) sind ihm jetzt gerade egal, augenblicklich, so allumfassend egal, wie es das nur geben kann. Er will nur den einen greifen und er will ihn vor allem begreifen. Und der andere tut es ihm gleich, er fasst richtiggehend nach dem einen. Und nun gibt es eine Verbindung zwischen beiden, sie tauschen sich aus wie ein Kreislauf, sind verknetet, zusammengedrückt auf allen Seiten, so ganz ineinander, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Es gibt jetzt genau nur noch einen Weg und eine Richtung, jetzt, im Moment, aber was ist das Leben sonst als ein wichtiger Moment oder viele davon, der ganz und gar vom einen zum anderen führt, und zwar in alle Etagen, das kennen wir ja. Aber dann trennen sich die beiden wieder.

Weil der eine sich besinnt und überlegt, dass er jetzt gerade von etwas abkommt. Von etwas, das er sich so gut und überzeugend zurechtgerichtet hat. Und freigeräumt von Umständen. Und dem anderen geht es gleich. Weil sich dessen Spur, die er zieht, eigentlich nicht mit der des einen kreuzt. Eigentlich. Nicht. Und es ungemütlich und unsicher ist, davon abzugehen. Und so rennen sie auseinander, in unterschiedliche Richtungen. Durch Tage, die einen Anfang haben und ein Ende nehmen, vorbei an vielen unausgestatteten Gesichtern. Sie ziehen, von oben auf der Weltkugel betrachtet, merkwürdige Bahnen, die einmal mehr, einmal weniger der des jeweils anderen nahe kommen. Als wären sie aus den Fugen geraten. Und das sind sie ja auch. In gewisser Weise. Nur gibt das keiner der beiden zu.

Das ist es nun also, könnte man denken, das wahnsinnige Pech. Dass einem genau dieser eine unter 7.284.283.000 begegnen muss, der einen aus der Bahn wirft. Obwohl man alles, nur gerade das jetzt nicht braucht. Aber was braucht man dann eigentlich?

Der eine macht sich also aus dem Staub und der andere macht das auch. Aber ihre Wege sind unruhig und irgendwie auch nicht mehr so frei. Und wenn sich der eine nun ab und zu, in einem unbedachten Moment, die Welt als kleines Ganzes denkt, dann sieht er eine dunkle Kugel mit einem hellen Punkt darauf. Und wenn er sich die Augen zuhält, um das nicht sehen zu müssen, dann spürt er es. Und jetzt weiß sich der eine nicht mehr zu helfen. Weil ihm eigentlich nicht mehr zu helfen ist. Weil ihn sein Weg zwangsläufig wieder zu diesem hellen Punkt zurückführen wird, ob er es nun will oder nicht. Und der andere wird dort sein, wo auch sonst. Er leuchtet ja nicht ohne Grund so hell. Die ganze Zeit. Und eigentlich ist das nur wünschenswert und irgendwie auch logisch, dass es so kommen muss. Denn wäre es nicht so, würde der eine durch- und davonkommen auf seinen Schleichwegen und der andere auch, könnte man hier nun tatsächlich, absolut berechtigt und aus gutem Grund sagen: Das ist nun aber wahnsinniges Pech.