oder: Weil ich Georg Trakl mag.

 

Rosen blühten. Laue Luft schmiegte sich über die laute Stadt. Und zwischen Stein blühten Rosen. Und rote Rosenblüten lagen auf grauem Rasen. Dann Elis, der zwischen rasenden Autos sich schlängelnd bewegte. Mit dichtem Blick in die Welt geblickt, die für ihn nicht war. Für ihn war nur Eliswelt, Elis-im-Wunderland-Welt, er allein in seiner weiten Kopflandschaft. Er übersah und hinterging mich. Ich kreuzte und querte Mandelsteins Weg. Dieser in Schlenderstiefeln. Mandelstein war einer, der immer zu spät kam. Und doch bestrafte ihn das Leben nie.

Wir trafen uns um die Ecke, Elis, Mandelstein und ich. Alle drei aus dem Nichts plötzlich hier und beschlossen, das Leben endlich zu begreifen. Mit Elis und Mandelstein sprach es sich schlecht, deshalb war Begreifen rein inwendig. Es wurde nicht verkommuniziert und zerredet. Buchstabenjongleur ist der Mensch und Elis mochte Sprache nicht, nur seine eigene, seine Elis-im-Wunderland-Sprache, die keiner sprach außer ihm. Schweigsames. Und Nachmittag schon, ohne Orientierung rumgelatscht. Mandelstein hinter uns, der immer zu spät kam. Der auch dann zu spät kam, wenn er bereits vor den anderen da war. Vielleicht nahm man ihn einfach nur verspätet wahr? Verzerrte Optik. Seltsamer Mandelstein, Mensch ohne Gesicht, denn Mandelsteins Gesicht interessierte nicht. Was interessierte: seine Ideen, Geniales knapp formuliert, sein eigenartiger Humor, der Lachgesichter ins graue Stadtbild zeichnete. Mandelstein sah deshalb auch nicht aus, er konnte hübsch, aber auch hässlich sein. Man wusste es nicht. Und es war unmöglich, sich einen Menschen vorzustellen, der sich je in Mandelstein verliebt hätte. Mandelstein war in gewisser Weise sogar geschlechtslos. Und sprachlos. Nie ein ganzer Satz, geschweige denn ein Gefüge. Nie eine Geschichte, manchmal Humoriges. Er liebte Witze, verschluckte aber den Witz und brachte nur die Pointe. Sprachsparend sozusagen. Mandelstein war nämlich der Ansicht, der Mensch hätte nur einen begrenzten Sprachvorrat zur Verfügung. Und einmal aufgebraucht, bliebe er sprachlos, der Mensch, denn Silbenzapfsäulen gab es nicht. Ein Mandelsteinwitz. Darauf Elis: – aha –.

Mandelstein, die wandelnde Ellipse, Elis, der Einsilbler, und ich.

Als es hinter uns krachte, glaubten wir, Mandelstein für immer verloren zu haben. Wir drehten uns um, er war nicht mehr hier. Ein Mülleimer lag umgeworfen, Nutzloses auf den Gehsteig gekippt. Elis und ich, wir sprachen nicht, nun aber doch. – Wo ist Mandelstein? – fragte ich. Ein kurzhalsiger, hochschultriger Elis blickte mich durch seine blickdichte Brille an, die Unterlippe leicht hängend nach außen gewölbt, und sagte – hm –, sonst nichts. – Hm –, sagte er und – oh – und – schau – und sein müder Zeigefinger wanderte bedächtig in Zeigerichtung Mülleimer. Der Blick fiel auf ein Rosenblatt, Tiefrotes leuchtend auf grauem Asphalt zwischen dunklem Weggekipptem. Wenig weiter ein zweites, dann ein drittes, ein viertes. Softe Spur einer Purpurschnecke, die zu einer Telefonzelle führte. Der Hörer lag abgehoben auf dem Apparat. Ich nahm ihn, – ja –, sagte ich. Dann eine Stimme: – Ich wandle im Rosengarten. Im Rosarotenrosengarten. Rosenduft klebt an mir, ich denk ihn mir zu dir. – Schrilles Lachen, in den Sog der Unerhörtheit gezogen, verklang. Das war nicht Mandelsteins Stimme. Es war nicht seine Manier, ganze Sätze zu formulieren. Und trotzdem kam es von Mandelstein. Es sprach für ihn. Und zudem sprach es für ihn, uns nicht einfach stehenzulassen. Er war also im Rosengarten. Elis stand noch immer neben dem Mülleimer und starrte. Hinter seinem dichten Blick lebte er wohl, bloß hier nicht. Ich trat aus der Zelle und auf die Purpurschnecke, die ihre Spur ins Lächerliche zog. Jetzt war sie tot. Unfallopfer. An meinem Schuh klebte Rotes.

Elis witterte. Ich sah seine Nase in Schnüffelbewegung. – Mandelstein ist im Rosengarten –, sagte ich wie beiläufig und stellte mich neben ihn. Plötzlich war er verändert, erleichtert, schöner als sonst, dann ging er um die Ecke. Ich hinterher, wie Mandelstein zuerst. Elis verändert. Er küsste im Vorbeigehen eine Frau, trat einen kleinen Hund beiseite, stoppte ein Auto, fluchte den Fahrer ins Schweigen und querte die Straße. Dann pfiff er eine Melodie, die keine war, atmete tief, sprang zweimal gegen einen Baum, Kastanie, sammelte Schmackhaftes für das Ross, das er nicht besaß, warf’s wieder weg und bog ein. Ich hinterher, wie Mandelstein zuerst. Rasende Autos wurden ruhiger. Der Stadtpark vor uns, der Rosengarten nicht weit. Ich hinterher, wie Mandelstein zuerst. Ankunft. Und keiner, der wartete. Mandelstein war nicht zu sehen. Elis wurde wieder von Lethargie erfasst.

– Hier –, rief plötzlich Mandelsteins Stimme. Nur, wo ist hier, wenn man mitten im Leben steht?
– Hierher. –, rief er noch einmal. Der Gang durch den Rosengarten war beschwerlich. Dunkel im Unterholz, nur von oben ein paar helle Sonnenstrahlen. Ich berührte einen Dorn und blutete, während Elis schon an einem Stiel nach oben kletterte.

– Ich habe mein Leben begriffen! –, schrie Mandelstein nun wieder in einem grammatikalisch vollkommen vollständigen Satz. – Ich auch! –, stimmte Elis ein, inzwischen angekommen, wippte begeistert, rutschte, zappelte, leuchtete aus klaren Augen. Schallend fiel das Sprachecho zu Boden. Beide saßen auf einer Rose, im offenen Kelch. Mandelstein auf einer roten, die Purpurtropfen zur Erde schickte. Elis auf einer rosaroten, in softe Blütenblätter geschmiegt. Ich stand noch unten, im Blütenblattschatten und wählte einen Rosenstiel. Dann kletterte ich hoch. Es wurde zunehmend heller. Ein fetter Sonnenstrahl drängte sich auf mein Gesicht. Dann oben und um mich eine Unendlichkeit roter und rosaroter Blütenblätter. Nur meine Rose war blau. Ich saß auf der einzig blauen Rose des Gartens. Ich saß nur kurz, saß beinahe und saß doch nicht, rutschte von Blüte und Blatt und verfing mich am obersten Dorn des Stiels, mit dem Kopf nach unten hängend. So blieb ich. Blaue Rose, schwarz vor Augen, der Blick in den Abgrund und über mir Lebendiges. Vom Rosenekel aus der Harmonie gespuckt. Elend. – Und ich, warum begreife ich nicht? –, fragte ich Elis und Mandelstein nach oben. Elis versank noch tiefer im leuchtenden Blütensamt. Mandelstein zündete sich eine Zigarette an. Und dann begann er die wohl längste Rede seines Lebens. Er musste geahnt haben, dass Sprachvorrat bald nutzlos war.

– Vorausdenken –, sagte Mandelstein, – Vorausdenken macht Rosensitzen unmöglich. Rose wäre dann zerstört. Blätter am Boden. Braun und ärgerlich. Zurückdenken ist auch unmöglich. Knospt die Rose, sitzt es sich schlecht. Nur jetzt, im Moment, ist Rosensitzen gut. Und wer blaue Rosen beklettert, sitzt noch im Zurück oder schon im Zuweitvor. Unnütz. Ich könnte jetzt vom Blatt kippen und tot sein. –, sagte Mandelstein voll Ironie. Und dann kippte er wirklich vom Blatt und war tot. Schlag des Schicksals. Traf ihn am Hinterkopf. Mandelstein fiel auf eine Purpurschnecke, der Arme, wurde zur selbigen, dort unten, von roten Rosentropfen bedeckt. Ich konnte ihn sehen, hing ja mit dem Kopf nach unten. Tropfentinktur blutrot. Das Leben hatte ihn nie bestraft, dem Tod war das ziemlich egal. Er holte sich Mandelstein, während Elis Einsilbler weiter gelassen an einem Butterbrot kaute, das er aus einer seiner Taschen gezogen hatte. – Mandelstein und Eisen bricht. –, sagte er gleichgültig. Dann kletterte er von der Rose und ging.

Ich blieb noch, bis mir alles Innere zum Hals heraushing, in meiner prekären Lage. Nun endlich sollte ich Leben begreifen, kopfabwärts an einem Rosenstiel hängend? Ich dachte mich frei. Wär’ Denkvorrat nur so begrenzt wie Sprachvorrat. — Ich dachte mich frei, von dem, was war, und dem, was noch kommen sollte. Ich ließ mich fallen, und dann verstand ich.