Per S., scritto a Napoli, 31/12/2016

Gleich hinter dem Brunnen stand ein Haus. Die Schrift über dem Laden war schwer zu lesen. Ein Wasserstrahl, der aus dem steinernen Gefäß der Brunnennymphe in den Himmel schoss, störte den Blick.

Enrico Scaloppino betrat den Laden am frühen Nachmittag. Guten Tag, sagte er, ich bin auf der Suche nach einer neuen Realität.
Da sind Sie hier richtig, sagte der Mann hinter dem Tresen, nur zu, kommen Sie näher, keine Scheu. Was haben Sie zu bieten?
Nicht viel, sagte Scaloppino, Geschäftsmann ein Leben lang, jetzt in Pension. Ich war erfolgreich, glauben Sie mir, aber als ich ging, scherte das keine Seele auch nur einen Deut. Ich habe viel getan für alle, immer auf die Menschen um mich geachtet, ich habe sie nie im Stich gelassen. Aber sie haben es mir nicht gedankt. So ist das eben, so gemein geht es zu, man kann sich verausgaben all die Jahre, kann leisten und bringen und wird nicht dafür belohnt. Man ist nur eine Momentaufnahme in diesem ganzen Treiben, eine Vergänglichkeit an sich, ein Übergang zu irgendetwas anderem hin.

Nun übertreiben Sie nicht, sagte der Realitätenhändler, so schlecht ist die Welt doch gar nicht. Ich vermute, es sind nicht die Menschen, die versagen, es sind Ihre eigenen Erwartungen, die Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Sie haben sich in gewisser Weise selbst enttäuscht.
Glauben Sie?, fragte Scaloppino zweifelnd, das heißt, man sollte nichts erwarten, um nicht enttäuscht zu werden?
Ja, genau, das glaube ich. Man sollte nichts erwarten. Das heißt aber nicht, dass man nichts anstreben soll. Aber die Reaktion der anderen Menschen auf das eigene Leben, die muss man auch den anderen überlassen. Sie können nur für Ihr eigenes Handeln Verantwortung übernehmen, nicht aber für das der anderen. Sie sind mit sich selbst zufrieden, Sie waren erfolgreich, wie Sie sagten, also freuen Sie sich! Es wird einen Grund geben, der Sie zu dieser Annahme bringt, Sie werden es nicht unkritisch heraussagen. Gerade Sie nicht.
Da haben Sie Recht, sagte Scaloppino, so habe ich das Ganze noch gar nicht betrachtet. Ich bin zufrieden mit dem, was ich geleistet habe. Ich bin reich in jeder Hinsicht.
Sehen Sie, sagte der Realitätenhändler, das ist doch die Hauptsache. Also, ich notiere: erfolgreicher Geschäftsmann über viele Jahre. Reisender auch?
Ja, Reisender, sagte Scaloppino, ich war viel unterwegs in der Welt, kenne die Kulturen, kann mit Menschen umgehen.
Gut, also auch Reisender. Ich notiere außerdem dazu: umgänglich, beliebt und aufgeschlossen. Sind Sie einverstanden?
Ich denke ja, sagte Scaloppino, ich möchte nicht überheblich wirken.
Nur keine Zurückhaltung, sagte der Realitätenhändler, es geht hier um Sie, deshalb heraus mit allem, besonders mit den guten Dingen! So, weiter nun: Familie, nehme ich an?
Ja, Frau, zwei Kinder.
Standard also, sagte der Realitätenhändler. Einfamilienhaus mit Garten?
Stimmt, Haus, Garten.
Hund?
Nein, kein Hund.
Auch gut, das wäre Standard plus, sagte der Realitätenhändler, aber den brauchen wir nicht. Standard allein ist schon eine gute Grundlage. Damit erreicht man all jene, die es nicht dazu gebracht haben. Die Individualisten, verstehen Sie?
Ich verstehe, sagte Scaloppino. Und Sie glauben, die wünschen sich das alles? Frau, Kinder, Haus mit Garten?
Bestimmt, sagte der Realitätenhändler, bestimmt. Sie möchten doch auch das, was Sie nicht haben. Es geht nicht nur Ihnen so. Was glauben Sie, warum ich seit 40 Jahren hier in meinem Laden existiere, hinter dieser wild gewordenen Wassernymphe, die jedem die Sicht auf mein Dasein versperrt? Ich existiere, weil es ein Grundanliegen der Menschen ist, immer das haben zu wollen, was sie gerade nicht haben. Immer das andere ist das Gute, es ist schon merkwürdig.
Also bin ich auch darin Standard?, fragte Scaloppino.
Könnte man so sagen, antwortete der Händler, aber das ist nebensächlich. Ich beurteile Sie nicht, ich werde Sie weder davon abhalten, Ihre Realität herzugeben, noch Sie dazu ermuntern. Ich bin kein Pfarrer. Sie selbst entscheiden, was Sie wollen. Ich muss Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Also, wo waren wir: Frau, Kinder, Haus mit Garten, das Standardpaket. Und zufrieden damit?
Ja. Durchaus. Meine Kinder sind fabelhaft, alle beide.
Und die Frau?
Auch. Natürlich.
Sonst noch?
Eine Geliebte.
Ach, sagte der Realitätenhändler und blickte einen Moment von seinem Notizblock hoch, in den er Scaloppinos Leben eifrig eingetragen hatte. Eine Geliebte also. Da schau her, Standard Premium. Das ändert natürlich die ganze Angelegenheit.
Inwiefern?, fragte Scaloppino. Ist das schlecht?
Nicht direkt, sagte der Realitätenhändler, das ist eigentlich ganz gut. Das macht die Sache spannender. Schlecht aussteigen werden Sie damit nur bei denen, die das moralisch verwerflich finden. Die gibt es natürlich auch. Aber es gibt für alles Abnehmer, keine Sorge. Also, eine Geliebte. Und, zufrieden damit?
Ja, durchaus. Sehr sogar, sagte Scaloppino.
Seit wann?
Seit zwei Jahren.
Die Ehefrau ahnt nichts?
Natürlich nicht, sagte Scaloppino, das ist doch der Sinn einer solchen Liaison, wenn ich nicht irre.
Ja, kann sein, das ist er wohl, sagte der Realitätenhändler. Also, ich fasse zusammen: erfolgreich im Beruf, Reisender und Menschenkenner, großartige Kinder, eine liebenswerte Frau und eine noch viel entzückendere Geliebte. Jünger, nehme ich an.
Ja, jünger, antwortete Scaloppino, warum interessiert Sie das so sehr?
Es muss mich interessieren, sagte der Händler, ich soll Ihre Realität schließlich vermarkten. Ich muss sie an den Mann bringen, verstehen Sie? Und da darf nichts unbedacht bleiben. Macht sie Probleme?
Wer?, fragte Scaloppino.
Die junge Geliebte, antwortete der Realitätenhändler.
Nein, eigentlich nicht. Sie hat ihr eigenes Leben, ihre eigene Familie. Ich denke, Sie ist glücklich damit.
Sie denken, so so. Haben Sie sie gefragt?
Na ja, nicht so direkt, antwortete Scaloppino. Ich habe ihr aber auch nie etwas vorgemacht. Ich habe ihr immer gesagt, wie die Dinge stehen, dass ich Frau und Kinder nicht verlassen werde. Würde sie das belasten, würde ich unser Verhältnis sofort beenden. Im guten Einvernehmen, versteht sich.
Natürlich. So einfach stellen Sie sich das also vor, sagte der Realitätenhändler. Ich notiere zwei Sachen: eine junge Geliebte, die keine Probleme zu machen scheint, Standard de Luxe. Aber auf der anderen Seite auch eine gewisse emotionale Unzulänglichkeit ihrerseits.
Wie meinen Sie das?, fragte Scaloppino. Ich habe ihr immer klar gesagt, wie das Spiel funktioniert. Ich mag sie sehr, sie liegt mir am Herzen und ich möchte sie ganz bestimmt nicht verletzen.
Ja, natürlich nicht, sagte der Realitätenhändler. Sie sind ein Menschenfreund. Und Sie sind ein Menschenkenner, zumindest oberflächlich betrachtet. Ich gebe hier nur zu bedenken: Nicht jeder Mensch ist in der Lage, Gefühle so von sich fernzuhalten, wie Sie das anscheinend können. Sie spielen in einem Bereich, der sehr viele Nuancen hat, die sich mit jeder Begegnung, mit jedem Gespräch, ja mit jedem Blick verschieben können, verstehen Sie? Ihre Geliebte kann im einen Moment noch mit der Sache zurechtkommen, im nächsten aber schon nicht mehr. Eine aufregende Nacht, vielleicht nur ein paar gemeinsame Stunden, eine liebevolle Geste und es kann um sie geschehen sein.
Sie bedrängen mich, sagte Scaloppino. Was werfen Sie mir vor? Ich bin nicht hier, um mich zu rechtfertigen.
Natürlich nicht, verzeihen Sie, sagte der Realitätenhändler. Ich muss nur wissen, wie ich Sie einordnen kann. Bleiben wir also bei Standard Premium, das macht die Sache einfacher. Ich frage mich nur, warum Sie sich so verschließen? Warum für Sie alles einer mathematischen Aufgabe zu gleichen scheint? Ich muss notieren: Kopfmensch, Analytiker.
Gut, meinetwegen, sagte Scaloppino. Notieren Sie das so. Ich agiere nur im Rahmen meiner Möglichkeiten, ich bin nicht bösartig.
Nein, das sind Sie in der Tat nicht, sagte der Realitätenhändler. Aber ich stelle auch in dieser Angelegenheit fest, dass Sie deutliche Erwartungen an Ihr Gegenüber haben. Konstante Gefühlsschranke, die es einzuhalten gilt. Sie haben das Profil eines Vorgesetzten, der gern fordert. Waren Sie in leitender Position tätig?
Ja, war ich, sagte Scaloppino.
Sehen Sie, das entspricht Ihrem Naturell. Ich notiere: Führungsqualitäten.
Es geht eben jeder anders mit der Liebe um, sagte Scaloppino. Und das ist doch auch in Ordnung so.
Ach, sagte der Realitätenhändler, jetzt sprechen Sie von Liebe? In welchem Zusammenhang? Um wen geht es hier nun? Um Ihre Familie, um Ihre Geliebte oder um Sie selbst?
Ich fühle mich nicht wohl, sagte Scaloppino. Er war blass geworden und stützte sich am Tresen ab, weil ihn die Kraft zu verlassen drohte.
Wir sind gleich fertig, sagte der Realitätenhändler, nur eine Frage habe ich noch an Sie.
Bitte, sagte Scaloppino, fragen Sie!
Warum wollen Sie Ihr Leben loswerden? Ein erfolgreicher Geschäftsmann in leitender Position, absolute Führungsqualitäten, analytisch-durchdachtes Herangehen an komplexe Situationen, welterfahren, reisetauglich, offen, ein Menschenkenner und großer Menschenfreund, schickes Haus mit Garten und sonstigen materiellen Annehmlichkeiten, wunderbare Frau, zwei wohlgeratene Kinder, eine junge Geliebte, die keine Probleme zu machen scheint. Was wollen Sie noch?

Scaloppino schwieg. Er schaute sich im Laden um, als suchte er nach etwas, an dem er sich festhalten konnte, wenn auch nur verbal, ein Gesprächsthema, das ihn aus seiner Lage rettete, in die er sich selbst manövriert hatte. Aber im Laden war nichts. Außer hohe, massive Holzregale, die leer waren, ein Tresen, der bis auf den Notizblock, auf dem nun in wenigen Zeilen Scaloppinos Leben zusammengefasst war, leer war. Hier ist nichts, sagte Scaloppino plötzlich.
Hier ist alles, sagte der Realitätenhändler. Alles, was Sie brauchen, finden Sie in diesem Laden. Sie sehen es nur nicht.
Wer sind Sie?, fragte Scaloppino, was haben Sie vor? Handeln Sie nun mit Realitäten oder nicht?
Doch, das tue ich, sagte der Händler, das, was ich mit Ihnen mache, ist das normale Vorgehen. Routinefragen, die ich stellen muss, bevor ich Sie in die Kartei aufnehmen kann.
Und wo bewahren Sie diese Kartei auf?, fragte Scaloppino. Offensichtlich nicht in den Regalen hinter Ihnen. Dort ist nichts!
Na ja, sagte der Realitätenhändler, dort ist nichts, weil ich gut im Handeln bin. Sie bekommen Ihr neues Leben, keine Sorge. Dann griff er unter den Tresen und holte eine Art Liste hervor.

Also, schauen Sie her. Wir haben: die Standardpakete. Ich vermute, die scheiden für Sie aus, die hatten Sie ja schon. Dann haben wir die Individualistenpakete, die Abenteurerpakete und die Extremistenpakete. Es gäbe dann noch vereinzelt Angebote für Wahnsinnige und ein paar Eremitenpakete. Hier ist die Auswahl allerdings auch nicht besonders vielfältig. Die scheinen ihr Leben zu mögen.
Gut, sagte Scaloppino, Wahnsinn interessiert mich nicht, die Eremiten ebenfalls. Das kann ich ausschließen.
Das dachte ich mir schon, sagte der Realitätenhändler, dafür sind Sie zu vernünftig. Wie steht’s denn mit gutem, gediegenem Essen? Ein schöner, schwerer Rotwein aus dem richtigen Glas getrunken, Pasta mit Trüffeln aus Umbrien. Wie klingt das für Sie? Sind Sie dem zugetan?
Was machen Sie hier mit mir?, fragte Scaloppino, Sie durchleuchten mich auf eine sehr unangenehme Art.
Das ist nicht meine Absicht, sagte der Realitätenhändler, ich frage Sie nur, weil ich auch ein Genießerpaket im Repertoire hätte. Sollten Sie diese schöne Eigenschaft des ausschweifenden Kulinarismus nicht aufgeben wollen, wäre das eventuell etwas für Sie.
Ich weiß nicht, sagte Scaloppino, ich weiß nicht, ich möchte mich nicht darauf kaprizieren. Haben Sie denn nichts Kreatives? Irgendetwas mit mehr Phantasie?
Ja, natürlich, habe ich: die Künstlerpakete. Sie können wählen zwischen Maler, Schreiber, Filmer, Aktionskünstler. Wobei Letzteres, ich muss Sie warnen, schon sehr in die Nähe des Pakets für Wahnsinnige zielt.
Filmer, sagte Scaloppino spontan, Filmer ist gut! Das klingt spannend und abwechslungsreich. Das erlaubt mir zu reisen, mich mit Leuten zu unterhalten, Situationen zu hinterfragen, ich kann analysieren und bin dennoch kreativ, ich denke, das würde zu mir passen.
Gut, sagte der Realitätenhändler, wenn Sie glauben, das wäre das Richtige für Sie, sehe ich gleich in meine Kartei. Sagen Sie mir nur noch, in welchem Genre Sie sich wohlfühlen würden? Lieben Sie das große Hollywoodkino oder hat es Ihnen mehr die Nische angetan?
Ich denke, sagte Scaloppino überzeugt, dass ich das große Hollywoodkino jetzt lange genug hatte. Den Glamour und das Geglitzer dieser reinen und kristallgeschliffenen Scheinleben. Ich denke, es ist nun Zeit für die Nische.
Die Nische also, sagte der Realitätenhändler, dachte ich’s mir doch. Nun gut. Sie verzichten also freiwillig auf die Oscars?
Na ja, sagte Scaloppino, das muss ja nicht zwangsläufig so sein, ich werde gut sein in dem, was ich mache. Ich kann es auch so schaffen.
In Ordnung, also Nischenfilmer mit Aussicht auf Erfolg, renommierte Preise inklusive. Die finanziellen Mittel wären in diesem Fall vorhanden, wenn auch nicht konstant. Das heißt, Sie müssten von nun an etwas flexibler werden.
Das habe ich vor, sagte Scaloppino, damit kann ich mich arrangieren.
Was es allerdings nicht gibt, ist eine Familie. Keine Frau, keine Kinder. Dafür Freiheit und Sie können sich nach Lust und Laune durch Ihr Leben bewegen, ohne Rücksicht auf jemanden zu nehmen.
Und Geliebte?, fragte Scaloppino.
Das scheint Ihnen ja überaus wichtig zu sein, merkte der Realitätenhändler an. Die gibt es natürlich, mehrere sogar. Einmal diese, einmal jene. Wobei der Begriff etwas ausgedehnter zu verstehen ist. Sie sind Künstler und haben Erfolg, Sie sind bekannt, vergessen Sie das nicht, das gefällt den Frauen! Sie können sich so viele Geliebte nehmen, wie Sie möchten. Die Palette ist reichhaltig – von jungen bis alten, schönen bis weniger schönen, intelligenten, interessanten, zurückhaltenden, aufdringlichen bis hin zu unverfrorenen Frauen. Jedes Land, jede Kultur hat mehr als genug zu bieten. Sie nehmen sich das, was Sie möchten.
Und dann?, fragte Scaloppino. Was mache ich, nachdem ich mir genommen habe, was ich möchte?
Und dann sind Sie wieder weg, sagte der Realitätenhändler. Sie machen sich in gewisser Weise aus dem Staub, aber in sehr charmanter Weise. Sie sind nämlich ein Menschenfreund, offen, beliebt, ein Kenner und Verhaltensstudierer, Sie haben das Talent, auf Menschen zuzugehen und diese unverzüglich für Ihre Belange einzunehmen. Das funktioniert einwandfrei! Und mit Ihrer charmanten, unaufdringlichen und ein wenig kindlichen Art sind Sie ein Volltreffer für jede Frau, die auch nur halbwegs im Einklang mit ihren weiblichen Instinkten ist.

Das hört sich vielversprechend an, sagte Scaloppino. Aber wo ist der Haken?
Es gibt keinen Haken, sagte der Realitätenhändler. Sie können bis in alle Ewigkeit so dahinleben. Ihr Leben ist ein einziges Abenteuer. Sie reisen ständig durch die Welt, kennen keinen Alltag, Sie haben mit aufregenden Menschen zu tun, mit außergewöhnlichen Situationen. Sie nehmen sich immer genau das, wonach Ihnen im Moment ist, Sie genießen das Jetzt. Sie gleichen einem Seefahrer, der viele Häfen kennt. Und Sie werden meistens sehr wohlwollend empfangen. Dafür geben Sie aber auch viel, Ihre ganze Leidenschaft, Ihren Mut und manchmal fast Ihr Leben. Aber das, was Sie schaffen, hat Wert. Und es beeindruckt die Frauen, sagte der Realitätenhändler und lachte.
Scaloppino überlegte. Gut, zusammengefasst bedeutet das nun also: Ich habe Erfolg, Geld und Frauen. Ich lebe meine Leidenschaft. Ich habe unzählige Möglichkeiten und keinen Alltag. Da stimmt doch etwas nicht.
Warum nicht, fragte der Realitätenhändler, woran zweifeln Sie?
Was ist, wenn ich mich verliebe?, fragte Scaloppino. In eine der vielen Frauen, die ich habe. In gewisser Weise liebe ich sie ja alle, vermute ich. Aber was ist, wenn ich mich wirklich verliebe?
Na ja dann, sagte der Realitätenhändler, dann machen Sie sich umso hartnäckiger aus dem Staub. Dann reden Sie sich am besten ein, dass das kein lukrativer Tausch ist, bei einer zu bleiben, wo sie doch viele haben könnten. Und diese vielen auf eine noch viel bessere und konfliktfreiere Art und Weise. Sie müssen nur wissen, wo Ihre Grenze ist, Sie müssen wissen, wann Sie aufhören sollten, sich mit einem Menschen zu konfrontieren. Sie dürfen keine Zugeständnisse machen und Sie müssen immer unverbindlich bleiben. Unverbindlich, aber charmant. Und liebevoll, überaus liebevoll. Das ist das Geheimnis. Das dürfte doch gerade Ihnen nicht schwer fallen, sagte der Realitätenhändler. Sie wissen doch, wie das geht. Sie haben eine Geliebte seit mehreren Jahren und behaupten auch jetzt noch, dass diese keine Probleme mache.
Ja aber, sagte Scaloppino.
Kein Aber, Scaloppino, antwortete der Realitätenhändler, hier gibt es kein Aber. Sie werden doch jetzt nicht anfangen, sich über einen Sachverhalt Gedanken zu machen, der Ihnen in Ihrer Realität als ganz eindeutig erscheint. Ich gebe Ihnen einen Tipp: Sie verlieben sich, so oft und so umfassend, wie Sie nur wollen. Immer wieder aufs Neue. In eine immer wieder neue Frau. Jede Frau kann auf ihre Weise ganz entzückend sein! Sie verlieben sich und genießen es, sind sanft, einfühlsam, Sie geben sich ganz hin, Sie gehen auf in den schönen Momenten zu zweit, Sie sind der Frau der beste Liebhaber. Wie sollte es auch anders sein – Sie lieben ja wirklich, in diesem Moment. Aber dann, Scaloppino, gleich danach, ich rate Ihnen: Machen Sie sich aus dem Staub! Laufen Sie, so schnell Sie nur können! Verabschieden Sie sich unter fadenscheinigen Vorwänden, man wird es Ihnen glauben, schließlich sind Sie in Ihrer ganzen Kunst auch dem Leben gegenüber ein Künstler. Ständig unterwegs, immer auf Durchreise, Sie stehen nie still. Laufen Sie, fliegen Sie, flattern Sie meinetwegen, aber schauen Sie, dass Sie davonkommen. Sonst sitzen Sie fest!

Das klingt anstrengend, sagte Scaloppino. Ich verstehe nicht, wie Sie das gut heißen können, während Sie die Liaison zu meiner Geliebten bis ins kleinste Detail hinterfragen.
Wer sagt, dass ich das gut heiße, antwortete der Realitätenhändler, ich beurteile es nicht. Ich versuche nur, Ihnen eine neue Realität zu verkaufen. Und diese hier habe ich gerade im Angebot. Sie müssen Sie im Ganzen nehmen, ich kann Ihnen nicht Teile davon anbieten. Und Sie müssen sich schnell entscheiden, die Realität ist noch auf Option. Und ehrlich gesagt befürchte ich, dass sie der Monsieur, der sie angeboten hat, wieder zurückziehen wird.
Ein Franzose also, sagte Scaloppino, wie sollte es auch anders sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Herr sein Angebot wieder zurückziehen wird, wer gibt schon ein solches Leben freiwillig her?
Ja, wer gibt schon ein solches Leben freiwillig her, wiederholte der Realitätenhändler. Wenn es nur diese Seite der Realität gäbe, bestimmt niemand. So lange Sie die Kraft haben zu laufen, ist dieses Leben herrlich. Und wenn Sie das bis zum Schluss Ihrer Tage schaffen mit der immer gleichen Überzeugung, dann haben Sie ohne Zweifel das Beste aus Ihrem Dasein gemacht.
Eigentlich spricht nichts dagegen, sagte Scaloppino, dass dies nicht gelingen sollte. Gibt es denn auch Schattenseiten in meinem neuen Leben?, fragte er, bin ich niedergeschlagen, zweifle ich viel?
Ach, niedergeschlagen, sagte der Realitätenhändler, niedergeschlagen würde ich nicht sagen, melancholisch vielleicht. Mal mehr, mal weniger. Manchmal etwas umfassender als üblich. Und Sie zweifeln, natürlich, Sie sind ein Künstler.
Aber woran? Was fehlt mir?, fragte Scaloppino.
Nichts Offensichtliches, antwortete der Realitätenhändler, möglicherweise aber eine Konstante. Oder die Liebe an sich, obwohl Sie diese in sich tragen und jedem geben können. Aber bei all dem Gefühl in Ihnen und um Sie herum spüren Sie manchmal gar nichts mehr. Da sind Sie einfach nur leer im Herzen. Und dann haben Sie keine Lust mehr auf Menschen, weder auf die vertrauten noch auf die fremden, weil Sie sie nicht mehr fühlen können. Das ist die andere Seite der Geschichte. Aber sorgen Sie sich nicht, Scaloppino, Sie werden damit umgehen können. Sie tragen Ihre perfekt tarierte Gefühlsschranke ja schon längst mit sich durchs Leben. Fragen Sie Ihre Geliebte, sie wird das bestätigen.
Ich bin nie vor ihr davongerannt, sagte Scaloppino, ich habe mich der Situation gestellt.
Ja, haben Sie, jeder geht anders mit der Liebe um, nicht wahr?, antwortete der Realitätenhändler. Sie haben sich Ihren Fluchtschein gleich im Vorhinein von ihr abstempeln lassen. Sie haben nie ganz aufgemacht, um dann nicht wieder zumachen zu müssen. Sie haben sich mit ihr auf ein Mittelmaß geeinigt. Ohne sie vorher um ihr Einverständnis zu fragen, nehme ich an. Somit mussten Sie dann auch nicht laufen. Sie konnten beruhigt gehen und sich dabei sogar noch umdrehen und ihr zuwinken. Also, Scaloppino, trauen Sie sich! Sie können das! Lieben und laufen ist die Devise! Eine neue Erfahrung für Sie, aber sicher eine aufregende.

Wie lange kann ich darüber nachdenken?, fragte Scaloppino.
Entscheiden Sie sich so schnell wie möglich, sagte der Realitätenhändler. Sie wissen, die Realität liegt auf Option, viel Zeit bleibt also nicht.
Ich weiß, sagte Scaloppino, aber ich bin nicht sicher, ob ich das möchte. So viele, immer wieder neue Menschen. Ich kann sie nicht alle lieben, ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, dass ich das will.
Der Realitätenhändler lachte. Keine Sorge, daran gewöhnen Sie sich, sagte er und klopfte Scaloppino auf die Schulter. Ich nehme an, Sie möchten Ihre Realität auch auf Option anschreiben?
Ja, das würde ich gerne, sagte Scaloppino, wenn das geht?
Natürlich geht das, sagte der Realitätenhändler, ich bin kein Dieb.
Sehr gut, sagte Scaloppino, ich komme wieder.

Er reichte dem Realitätenhändler die Hand und verließ den Laden. Er ging zum Brunnen, lief zweimal im Kreis um ihn herum und wusste nicht mehr, aus welcher Richtung er vorhin den Platz betreten hatte. Er fühlte sich, als wäre ihm etwas Wichtiges abhanden gekommen. Etwas Grundlegendes. Aber er wusste nicht so recht, was es war.