In meinem Keller stinkt es nach Verwesung. Vielleicht ist es ein Tier, das durch eine Ritze geschlüpft ist, durch das undichte Fenster, das manchmal aufspringt bei starkem Wind. Wenn der alte Holzrahmen knarrt und ächzt und schließlich mit dumpfem Knall gegen das Gemäuer schlägt, dann weiß ich, dass mein Keller wieder offen ist für jeden, der herein will, dass er dunkle Gestalten anlockt mit seinem modrigen Geruch, den er nach außen schickt.

Ich stehe bewegungslos in einer Ecke des Kellers und schnüffle. Meine Nase folgt dem Verwesungsgeruch, der immer stärker wird. Ich glaube nicht an ein Tier. Der Geruch ist zu intensiv. Plötzlich springt mit einem Klack das Licht aus und es ist dunkel. Ich bewege mich nicht mehr, stehe in meinem Abteil. Durch das Fenster dringt diffuses Grau. Irgendetwas schlägt konstant wie ein großes Uhrenpendel. Vielleicht ist es Wasser, das aus einem undichten Rohr auf ein anderes Rohr tropft. Der Klang ist hohl. Ich hantle mich am Holzgitter, das meine Kellerparzelle von den anderen abtrennt, langsam nach vor, zum Ausgang. Ich schleiche wie jemand, der nicht erwischt werden will. Es ist unheimlich hier, und ich komme nur mühsam voran. Die Kellerabteile, die links und rechts des Flures liegen, sehen aus wie Gefängnisse, die leer stehen. Das Kellergewölbe ist so verwinkelt, dass ich die Wege im Dunkeln noch immer nicht kenne. Und dabei bin ich öfter hier. Krame in den Kisten, die sich mit der Zeit angesammelt haben, das deutsch-französische Wörterbuch in Frakturschrift, die afrikanische Totenmaske, vieles davon gehörte meinem Großvater. Er hat mir die Dinge vererbt, ohne mich über deren Herkunft aufzuklären. Er hat mich mit ihnen allein gelassen. Jetzt liegt es an mir, sie mit Geschichten zu versehen.

Endlich ertasten meine Hände das rauhe Gemäuer. Ich bin am Ende des Flures angelangt, streiche vorsichtig über die unregelmäßigen Mauerwölbungen, berühre ein Kabel, das an der Wand entlang nach oben läuft, verfolge es tastend und erreiche den Lichtschalter. Ich drücke, es klackt und das Licht springt an.

Ich gehe zurück in mein Kellerabteil, setze mich auf eine der Kisten und schlage das Wörterbuch auf. Der Verwesungsgeruch kommt im Minutentakt wieder. Er schwillt an und wieder ab wie langsames Atmen. Ich sehe mich um. Ich muss den Keller nach Eindringlingen durchsuchen. Die Parzelle links neben mir steht leer. Seit Herr Albrecht vor einem halben Jahr plötzlich verschwunden ist, hat niemand mehr die Wohnung bezogen, die zu diesem Kellerabteil gehört. Vielleicht, weil man bis heute nicht weiß, ober er wieder zurückkommt. Die Ullheims aus dem dritten Stock haben vorerst seine Hausmeistertätigkeiten übernommen. „Für die Gemeinschaft“, sagte Frau Ullheim, „damit alles im Rechten bleibt.“ Sie ist eine gebildete Frau und versteht es, mit ihrem diplomatischen Verhalten Grenzen auszureizen. Beliebt war der Albrecht nicht. Eigentlich gab es außer den Ullheims niemanden im Haus, der ihn mochte. Nicht einmal der verrückte Lorenz. Und ich glaube, dass es außer den Ullheims auch niemanden gibt, der sich seine Wiederkehr wünscht, denn der Albrecht war ein richtig ekelhafter Hausmeister.

Mit einem Klack springt das Licht von Neuem aus. Ich sitze immer noch auf Großvaters alter Holzkiste und beschließe, im Dunkeln weiterzuforschen. In der Parzelle rechts neben mir entdecke ich das alte Fahrrad von Frau Emmerlein. Ein Minirad, die Farbe kann ich nicht erkennen. Frau Emmerleins Parzelle ist aufgeräumt. Ein paar Kisten, säuberlich übereinandergestapelt, eine alte Stehlampe, deren Schirm schief hängt und das Fahrrad. Ich entdecke nichts Auffälliges. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich kann jetzt bis in die Parzellen auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs sehen. Geradeaus das Abteil des jungen Lorenz. Ein seltsamer Kauz ist er, denke ich. Der hätte gewiss etwas zu verbergen. Doch ich kann nichts entdecken. Ganz im Gegenteil. Ein altes Sofa und in der Ecke ein paar lange Stangen, manche mit Netzen am Ende, manche ohne, könnten Angeln sein und Fischernetze. Dass der Lorenz fischt, hätte ich nicht für möglich gehalten. Vielleicht fängt er damit aber auch Kröten und seziert sie bei lebendigem Leib. Das würde zu ihm passen. In der Ecke des Kellers, rechts neben Lorenz’ Abteil, liegt Herrn Seidemanns Parzelle. Herr Seidemann ist ein alter Mann, Mitte achtzig, der immer sehr streng riecht. Seit seine Frau gestorben ist, vergisst er oft, sich zu waschen. Ich überlege, ob Herrn Seidemanns ungewaschene Kleidung einen derart scharfen Geruch verbreiten könnte, wie er in diesem Keller liegt. Doch noch während ich nach Kleiderständern und abgelegten Stücken Ausschau halte, entdecke ich etwas überaus Eigenartiges. Einen Schatten, der fledermausgleich von Herrn Seidemanns Parzellendecke hängt. Der Körper ist in schweren, dunklen Stoff gewickelt und an den Fußenden mit einem dicken Strick angebunden. Ich glaube nicht an menschengroße Fledermäuse. Doch das, was da vor mir hängt, in der dunkeln Ecke hinter dem Holzgitter, ist einzigartig. Wie hypnotisiert erhebe ich mich von der Kiste und gehe langsam auf die Parzelle zu. Ich schleiche wieder, meine Schritte sind auf dem Stein kaum hörbar. Ich schwebe beinahe, werde von einer unsichtbaren Kraft im Rücken vorwärtsgeschoben, direkt auf Herrn Seidemanns Parzelle zu. Ich halte mir den Jackenärmel vors Gesicht. Der Verwesungsgeruch ist so stark, dass ich nicht mehr atmen kann. Jetzt sehe ich es genau. Etwas Großes baumelt da am Strick, es macht den Eindruck, als hätte es sich vorhin gerade noch bewegt und würde jetzt ausgeistern, als hätte es ein Luftzug in Bewegung gesetzt oder eine unsichtbare Hand. Es ist so groß und massiv, dass ich nicht an ein Tier glaube. Ich fühle mich plötzlich sehr unwohl, möchte davonlaufen, den Flur entlang zur Kellertür und hinaus in die Helligkeit, ins Leben. Doch irgendetwas hält mich davon ab. Vielleicht doch eine unsichtbare Hand. Plötzlich geht das Licht an. Ich springe instinktiv ein Stück zurück und schleiche lautlos wieder in meine Parzelle. Dort setze ich mich hinter eine von Großvaters Kisten und warte ab.

Herr Seidemann kommt mit schweren Schritten den Kellerflur entlang. Seine Schuhe schleifen über den Stein. Er pfeift ein paar Takte vor sich hin, unzusammenhängendes Zeug, geht an meiner Parzelle vorbei und öffnet die Tür zu seinem Abteil. Ich kann kaum erwarten, was jetzt passiert, erhebe mich so weit, dass mein Kopf über die Kiste ragt. Ich sehe Herrn Seidemann, der etwas in der Hand hält. Ein Gefäß aus Glas, das mit einer dunklen Flüssigkeit halb gefüllt ist. Er stellt es auf einen kleinen Tisch, der in einer Ecke steht. „Gleich neben den Toten“, denke ich, doch ich kann ihn nicht mehr entdecken. Ich erhebe mich noch weiter, vielleicht haben sich meine Augen schon so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich im Licht nichts mehr sehen kann, doch da ist nichts. Tatsächlich nichts. Kein Toter, kein Strick, sogar der Verwesungsgeruch scheint plötzlich verschwunden. Herr Seidemann dreht das Glas zwei-, dreimal auf der Tischfläche hin und her. Dann nimmt er es und stellt es auf den Boden. „Albrecht, du mieser Knabe“, murmelt er, „dass du mir nur ja keinen Dreck machst.“ Er spitzt seinen Mund, setzt wieder zu ein paar Pfeiftakten an und verlässt schlürfend sein Abteil und wenig später den Keller.

Ich bin verwirrt. Irgendetwas ist mächtig faul in Herrn Seidemanns Kellerabteil. Ich weiß nur eines: Ich muss mich jetzt beeilen, springe hinter der Kiste hervor, verlasse zügig mein Abteil und laufe ein paar Schritte auf Seidemanns Parzelle zu. Ich muss wissen, was in dem Glas ist. Und ich muss mich beeilen, bevor das Licht wieder ausgeht und ich vor dem Toten stehe.

Herrn Seidemanns Tür ist nicht abgesperrt. Ich reiße sie auf, mache einen großen Schritt auf das Glas zu, kann es mit ausgestrecktem Arm fassen, ziehe es zu mir hoch, rieche daran, das ist Himbeersirup, denke ich, eindeutig, Himbeersirup, und stelle es schnell wieder auf seinen Platz zurück. Plötzlich ein Klacken und es wird dunkel. Wie hypnotisiert stehe ich da, für einen Moment, dann drehe ich mich schnell um, schlage die Holzgittertür hinter mir zu und laufe den Flur entlang zur Ausgangstür. Ich wundere mich, dass ich dort ankomme, ohne zu touchieren.

Ich weiß nicht recht, was ich jetzt machen soll, kann aber auf keinen Fall in meine Wohnung zurückgehen und so tun, als hätte ich nichts gesehen. Ich gehe also ins zweite Stockwerk und klingle an Herrn Seidemanns Tür. Von innen ist ein lauter werdendes Schlürfen zu vernehmen, dann geht die Tür auf.
„Ich grüße Sie“, sagt er und nickt wohlwollend. Er riecht schon wieder sehr streng und ich trete unwillkürlich einen Schritt zurück. „Kommen Sie doch herein.“
„Nein, danke“, sage ich, „ich will nicht stören. Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie in letzter Zeit einmal im Keller waren und den merkwürdigen Geruch dort bemerkt haben. Das ist nicht Moder, es riecht ein bisschen nach etwas Totem.“
„Ach ja, tut es das?“, fragt Herr Seidemann sichtlich erfreut. „Das ist aber schnell gegangen.“
„Ich verstehe nicht“, sage ich zögerlich.
„Natürlich verstehen Sie nicht. Aber ich sag’s Ihnen: Albrecht ist ersoffen!“
„Ach wirklich?“ Ich bin verwundert. „Und wo?“
„In meinem Himbeersirupglas, dieser vermaledeite Banause.“
„Wie soll Herr Albrecht denn in Ihr Himbeersirupglas passen?“, frage ich.
„Der passt da rein. Bis auf den Schwanz hat da alles drin Platz!“
Oh Gott, denke ich, so genau wollte ich es gar nicht wissen.
„Diese Ratte“, faucht Herr Seidemann. „Ich wusste, dass ich den Albrecht mit billigem Himbeersirup drankriegen würde.“
„Albrecht ist eine Ratte?“
„Natürlich ist er eine Ratte. War er eine Ratte“, verbessert sich Seidemann. „Und was für eine, dieser miese Kerl. Hat doch beim Hauseigentümer beantragt, dass ich ausquartiert werde. Ich röche zu streng, behauptete er, das könne man keinem im Haus zumuten.“ Herr Seidemann ist aufgebracht. „Sagen Sie mir: Rieche ich streng?“
Ich bin vor den Kopf gestoßen, sage: „Nein, ich denke nicht.“
„Was heißt, Sie denken nicht?“, bohrt Seidemann weiter. „Das klingt nicht überzeugend.“
„Nein, nein“, sage ich noch einmal, zu mehr bin ich nicht in der Lage, „aber außer der Ratte ist nichts in Ihrem Kellerabteil, das stinken könnte?“
„Warum glauben die Leute bloß immer, dass aller Gestank in diesem Haus von mir ausginge? Es reicht jetzt!“, faucht er, schlürft ein paar Schritte in seine Wohnung zurück, öffnet die erste Tür und verschwindet dahinter.
„Ein Toter vielleicht?“, schreie ich ihm nach. Prompt steckt Herr Seidemann den Kopf wieder durch die Tür und kommt erneut auf mich zu. Er hat seinen Körpergeruch mit Moschus überdeckt. Eine unerträgliche Mischung.
„Ein Toter? Natürlich, ich hab den alten Albrecht doch umgebracht!“, sagt Seidemann amüsiert und grunzt dabei fast vor lachen. „Sie haben mir vielleicht eine Fantasie! Sie sollten sich mit dem Lorenz zusammentun, den werden Sie mögen. Der ist genauso verrückt wie Sie!“ Dann hebt er die Hand zum Gruß und schließt die Tür. Ich höre ihn noch eine Zeit lang lachen, dann ist es leise.

Natürlich kann ich mich damit nicht zufriedengeben. Ich muss noch einmal in den Keller, ob ich nun will oder nicht. Ich gehe in meine Wohnung zurück, hole eine Taschenlampe und mache mich damit wieder auf den Weg nach unten. Die Kellertür knarrt, als ich sie öffne. Ich drehe das Licht nicht an, gehe im Dunkeln weiter, die Holzgitterstäbe werfen bedrohliche Schatten auf den Steinboden, dann erreiche ich meine Parzelle. Ich gehe hinein, schließe die Tür hinter mir. Ich werde hier stehen bleiben, Herrn Seidemanns Parzelle sehe ich gut, dann knipse ich die Taschenlampe aus. Einen Moment lang ist alles um mich dunkel. Nur langsam wird es heller. Ich höre meinen eigenen Atem, noch wage ich nicht, einen Blick in Seidemanns Parzelle zu werfen. Das konstante Klopfen des Wassers, das aus dem defekten Rohr tropft, irritiert mich. „Schau endlich“, sage ich leise zu mir, hebe den Blick, fixiere Seidemanns Parzelle. Meine Augen müssen sich an diese Distanz erst gewöhnen. Ich konzentriere mich auf die Stelle, an der der Tote am Strick baumelte. Doch ich sehe nichts. Keinen Strick, keinen Schatten, nichts. Ich muss doch näher ran, gehe über den Flur auf Seidemanns Abteil zu, öffne die Tür, trete hinein. Plötzlich stoße ich gegen etwas, es klirrt, ich springe zurück, drücke den Knopf der Taschenlampe. Auf dem Boden liegt umgekippt und zerbrochen das Himbeersirupglas. Darin, kopfüber, eine dicke Ratte. Ich habe genug. Ich bin doch die eigentlich Verrückte hier in diesem Haus, nicht der Lorenz, denke ich, der Seidemann hat schon recht. Ein wenig enttäuscht verlasse ich das Abteil, gehe durch den Flur zurück Richtung Ausgang und schließe die Tür hinter mir.

Der Keller ist wieder verlassen, Wasser tropft gleichmäßig aus dem Rohr, der alte Holzrahmen knarrt, ein Schatten huscht aus Frau Emmerleins Abteil und verschwindet in Herrn Seidemanns Parzelle. Es raschelt kurz, dann ist es wieder leise.