oder: die Liesbeth in deinem Leben

Favell sitzt am Schreibtisch, es ist elf Uhr abends. Sein Gesicht liegt im Dunkeln, während die tief geneigte Tischlampe gelbe Kreise aufs weiße Blatt zeichnet. Dann nimmt er den Bleistift, kritzelt das Datum in die obere rechte Ecke, lässt zwei Leerzeilen folgen und schreibt:

Lieber Herr Jonas,

ich muss morgen verreisen. Der Arzt hat es mir dringend empfohlen. Er hat mich, vielmehr, dazu angehalten. Ich weiß nicht, wann ich wiederkommen werde, ob ich wiederkommen kann. Darf ich Sie trotzdem bitten, sich in der Zwischenzeit um meine Pflanzen zu kümmern? Mir ist bewusst, ich verlange viel von Ihnen. Aber ich werde mich erkenntlich zeigen. Ich habe schon alles dafür veranlasst. Ich danke Ihnen vielmals, dass ich mich in dieser Angelegenheit auf Sie verlassen darf! Der Schlüssel liegt dem Kuvert bei, das Prozedere kennen Sie ja.

Herzlichst, Ihr Artur Favell

 

Als Jonas am nächsten Morgen die Wohnungstür öffnet, um die Zeitung zu holen, findet er dort, unter der Zeitung liegend, Favells Kuvert. Er liest die Nachricht und wundert sich, dass Favell nicht persönlich bei ihm vorbeigekommen ist, wie er es sonst immer macht. Gleich nach dem Frühstück geht er deshalb über den Flur in Favells Wohnung, um nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Doch er kann nichts Auffälliges entdecken. Die Wohnung ist aufgeräumt, alles steht wie gewohnt an seinem Platz. Die Erde der Pflanzen ist noch feucht. Favell scheint bereits abgereist zu sein, ohne eine Adresse oder Telefonnummer hinterlassen zu haben.

Jonas streift noch eine Weile ziellos durch die Räume des Mannes, wirft einen Blick auf die umfassende Bibliothek, die sich vor seinen Augen ausbreitet. Ein angenehmer, zurückhaltender Mensch ist er, denkt Jonas, der zu viel in alten Büchern liest, seine antiquierte Ausdrucksweise ist nicht verwunderlich. Dann entdeckt Jonas auf dem Schreibtisch ein Blatt Papier, der benutzte Bleistift liegt demonstrativ noch quer darüber. Das Blatt ist akribisch beschrieben, ohne Platz zu verschwenden. Er betrachtet es eine Weile zögernd, dann nimmt er es und beginnt zu lesen:

Meine liebe Liesbeth, nein, das trifft es nicht: Meine geliebte Liesbeth, so muss ich beginnen.
Meine über alles geliebte Liesbeth! Findest du das schon zu viel?

Ich schreibe dir heute, weil mir nichts anderes mehr übrig bleibt. Weil die wenigen Worte, die ich nun sorgsam und überlegt aneinanderzureihen gedenke, die einzige Möglichkeit sind, dir zu sagen, dass ich dich noch immer liebe. Dass ich nie aufgehört habe damit. Dass es keinen Tag, manchmal sogar keine Stunde, keine Minute gegeben hat, in all den Jahren, in der du nicht bei mir warst. In der ich mein Leben nicht mit dir geteilt habe, ob ich es nun wollte oder nicht. Du hast mich besiedelt, Liesbeth, weißt du das? Wie einen verlassenen Landstreifen, der niemandem gehört, hast du über mich verfügt, ganz nach Laune. Und wenn du nun sagst, es ist nicht richtig, dir das vorzuwerfen, du hättest dich nie in mein Leben gedrängt, dann werde ich dir antworten: Aber das ist kein Vorwurf, Liesbeth, es ist alles, nur das nicht! Und ja, es ist leider wahr, du hast dich nie in mein Leben gedrängt. Ganz im Gegenteil, du hast es gemieden, so weit es nur ging, warst geschickt darin, es auf abenteuerlichste Weise zu umgehen. Nur aus der Ferne hat mich ab und zu ein Gruß oder soll ich besser sagen eine Gemütsregung von dir erreicht, die mich vermuten ließ, dass auch dir meine Abwesenheit missfällt. Ich mache dir keinen Vorwurf, Liesbeth, danach ist mir nicht, aber ich möchte versuchen, dir zu erklären, wie es sich anfühlt in mir, was du dort ausgelöst hast. Da ist, ich schreibe es nun ohne Umschweife nieder, da ist Liebe, tiefe, allumfassende, immerwährende Liebe, ich bin voll davon. Verstehst du, Liesbeth, ich bin erfüllt von Liebe! Die auf nichts baut, die sich keine Berechtigung erkämpfen musste, die einfach nur da ist und dir gilt! Ist das nicht wunderbar?

Nein, das ist nicht wunderbar, höre ich dich nun sagen. Das ist ganz und gar nicht wunderbar, weil es dich bedrängt, weil dir der Gedanke daran regelrecht Angst macht. Und zudem überrascht es dich. Aber warum? Weil du mir solche Gefühle nicht zugetraut hättest? Weil dich die Klarheit dieser Worte verwirrt? Ich gebe zu, ich war nie gut darin, dir wirklich zu sagen, was in mir vorging. Vielleicht habe ich manchmal auch den Eindruck erweckt, es würde mir wenig an dir liegen. Nur, Liesbeth, das konntest du doch nicht wirklich annehmen? Nach allem, was geschehen ist? Ich habe dich glühend verehrt, mehr als das, ich war dir ganz und gar zugetan! Ich konnte mir keinen Tag vorstellen, der nicht mit dir beginnen, und keinen Abend, der ohne dich enden würde. Du warst immer bei mir, ich habe dich mitgetragen durch jeden einzelnen Atemzug in all den Jahren. Du warst meine Leidenschaft, mein Motor, du hast mich am Leben gehalten. Du warst das Leben, Liesbeth! Du! Ich hätte mir alles mit dir vorstellen können. Verstehst du? Alles! Ich hätte alles für dich getan, wir wären frei gewesen, wild und uneinsichtig. Wir wären das Abenteuer gewesen, wir zwei, du und ich, Liesbeth! Du und ich.

Jetzt kommt der Frühling, wieder ein neuer, einer von vielen. Ich höre die Vögel zwitschern, die Tauben sitzen schon vor meinem Fenster, und ich warte darauf, dass die Bäume wieder Blätter werfen. Aber ich bin müde geworden. Ich habe die Kraft und Lust verloren, nach dir zu rufen. Mich nach dir zu sehnen. Nicht einmal dazu bin ich noch in der Lage. Letzten Winter habe ich sogar begonnen, dich ein wenig zu verachten. Ja, du liest richtig. Ich habe begonnen, dich zu verachten. Für deine Hartnäckigkeit und Uneinsichtigkeit, dich deinen Gefühlen zu stellen. Dafür, dass du mich mit hineinziehen musstest in dieses Unglück. Und ein wenig auch dafür, dass du mit deiner Existenz überhaupt in mein Leben getreten bist. So unbedacht.

Und trotzdem: Jeder Frühling, der sich ankündigt, gibt mir wieder Hoffnung. Sie ist lächerlich geworden mittlerweile, diese letal wirkende Hoffnung, ich weiß, aber ein Liebender verliert sie nie, wie absurd sie auch sein mag. Ein Liebender ist abhängig von ihr und von dem Gedanken, dass sich Gefühle ändern können, in welche Richtung auch immer. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, Liesbeth, dass du irgendwann doch in der Lage sein würdest, mir wieder zu begegnen. Dass du aufhören würdest, vor mir davonzulaufen. Ein wenig habe ich auch gehofft, dass ich dich vergessen könnte. Mit jedem neuen Frühling, der kam. Aber es ist aussichtslos.

Ich fahre nun weg, Liesbeth, ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Ich muss in den Westen. So weit es nur geht. Wenn ich immer westwärts fahre, werde ich irgendwann wieder hier ankommen. Aber das kann dauern. Vielleicht bist du mir bis dahin wirklich gleichgültig geworden, Liesbeth, wer weiß. Es soll ja auch Wunder geben.

Du kannst mir schreiben in der Zwischenzeit, wenn du möchtest. Wenn du mir noch etwas zu sagen hast. Und du kannst dich frei bewegen, ohne Angst, mir über den Weg zu laufen. Ich werde weit weg sein von dir, unsere Tage werden sich bestimmt nicht kreuzen. Du hast lediglich die Gewissheit, dass ich noch auf diesem Planeten bin, auf demselben wie du. Schreib mir einfach an die bekannte Adresse. Irgendwann werde ich deinen Brief lesen. Es hat ja keine Eile, Liesbeth, mein ganzes Leben lang warte ich schon auf Antwort von dir. Die Zeit ist inzwischen nebensächlich geworden.

Somit möchte ich nun schließen. Pass gut auf dich auf, meine liebste, schönste Liesbeth, und sei dir gewiss, dass ich dich immer mittrage in meinem Herzen, wohin ich auch gehe.

Ich küsse dich innigst, dein Artur

 

Jonas legt das Blatt beiseite, ohne Luft zu holen hat er es durchgelesen, und schüttelt unwillkürlich den Kopf. Er ist eigentümlich berührt von diesen Zeilen, die er Favell nicht zugetraut hätte. Ein so verschlossener Mensch wie er, der immer allein zu sein schien. Nie hat er eine Frau bei Favell ein oder aus gehen sehen, nie hat er mitbekommen, dass es jemanden in seinem Leben gegeben hätte. Und er wohnt nun seit fast 20 Jahren hier, auf der anderen Seite des Flures. Ein wenig tut ihm Favell nun leid. Auch der Umstand, dass er den Brief einfach hier liegen lassen und sich davon gemacht hat, ist merkwürdig. Jonas nimmt das Blatt noch einmal in die Hand, wendet es und entdeckt auf der Rückseite, ganz unten in eine Ecke gekritzelt, eine Adresse. Liesbeths Adresse. Sie wohnt in derselben Straße, zwei Häuserblocks weiter. Jonas ist unschlüssig, was er nun machen soll.

Ein paar Tage vergehen, immer wieder kehrt Jonas in die Wohnung zurück, um nach dem Rechten zu sehen. Immer wieder bleibt er am Schreibtisch stehen und betrachtet den Brief. Dann beschließt er endlich, ihn Liesbeth zu bringen. Jemand, der so glühend liebt, wie Favell es macht, darf nicht ungehört bleiben. Er müsse ihm helfen, denkt er, in dieser Situation, die Favell alleine scheinbar nicht zu bewältigen weiß. Schließlich wird es auch einen Grund dafür geben, warum er den Brief hier liegen gelassen hat, warum Jonas ihn finden musste. Er nimmt also das Blatt, faltet es und steckt es in seine Jackentasche. Dann macht er sich auf den Weg zu Liesbeth.

Die Eingangstür des Hauses steht offen, er steigt die wenigen Stufen bis ins erste Stockwerk hinauf, bleibt einen Moment vor Liesbeths Tür stehen, richtet sich irgendwie zurecht, atmet zweimal tief durch und klingelt.

Schritte nähern sich von innen, ja bitte, sagt eine Stimme, während die Tür bereits geöffnet wird. Eine attraktive, brünette Frau, deutlich jünger als Favell, öffnet die Tür. Ja bitte, sagt sie noch einmal.

Entschuldigen Sie, sagt Jonas etwas zögerlich, sind Sie Liesbeth?

Ja, die bin ich, sagt die Frau, nicht weniger zögerlich.

Ich habe hier einen Brief für Sie, sagt er. Ich bringe ihn persönlich, weil ich sicher gehen wollte, dass er auch ankommt. Er holt das Papier aus seiner Jackentasche und streckt es Liesbeth hin.

Sie nimmt es, faltet es auf, einen Brief, fragt sie, von wem ist er, und beginnt schon zu lesen.

Von Artur Favell, sagt Jonas.

Liesbeth nickt unschlüssig, überfliegt die Zeilen, ihre Augen wandern unruhig von links nach rechts. Sie dreht ihren Kopf leicht zur Seite, fixiert das Blatt, liest dann wieder weiter, hält inne, atmet tief durch.

Jonas schaut sie erwartungsvoll an. Und?, fragt er.

Aber, sagt Liesbeth, wer ist das? Ich kenne ihn nicht.

Wie bitte?, fragt Jonas verdutzt.

Ich kenne diesen Herren nicht. Ich kenne keinen Artur Favell. Wie kommen Sie darauf, dass dieser Brief für mich sein soll?

Weil, Jonas greift nach dem Blatt in Liesbeths Hand und wendet es, weil das doch Ihre Adresse ist, die da unten steht, oder habe ich mich geirrt?

Nein, sagt Liesbeth, Sie haben sich nicht geirrt, das ist meine Adresse.

Nun eben, sagt Jonas, scheint dieser Brief auch für Sie zu sein.

Aber ich kann nichts damit anfangen, sagt Liesbeth. Dieser Herr ist mir fremd. Das, was er schreibt, ist mir fremd.

Das kann nicht sein, sagt Jonas. Überlegen Sie doch noch einmal ganz genau! Sie müssen Herrn Favell doch kennen. Er wohnt zwei Häuserblocks weiter, Lindengasse 13, ein älterer, angenehmer Herr, sehr gebildet. Eine adrette Erscheinung. Fällt Ihnen nichts dazu ein?

Liesbeth überlegt. Sie überlegt wirklich und angestrengt, sie möchte nicht oberflächlich wirken. Zudem wäre es ja möglich, dass sie Favell einmal kennengelernt, danach aber einfach wieder vergessen hat. Und das möchte sie nun auch nicht, leichtsinnig mit dieser Situation umgehen. Aber so sehr sie sich auch anstrengt, ihr fällt nichts dazu ein. Rein gar nichts.

Ich kenne ihn nicht, tut mir leid, ganz ausgeschlossen, sagt sie schließlich, ich habe noch nie von diesem Menschen gehört.

Jonas ist ratlos. Was machen wir denn jetzt?, fragt er.

Nichts, sagt Liesbeth, was sollen wir machen? Nehmen Sie den Brief bitte wieder mit und geben Sie ihn dem Herrn zurück.

Das geht nicht, sagt Jonas, er ist verreist, er verlässt sich darauf, dass ich den Brief zustelle.

Nun gut, sagt Liesbeth, dann weiß ich auch nicht. Gibt es denn keine andere Liesbeth, die Sie kennen und der Sie diesen Brief geben könnten? Eine, die sich darüber freut?

Also Sie haben ja Ideen, sagt Jonas, ich kann doch nicht einfach eine andere Liesbeth mit Herrn Favells Liebe beglücken. Sie handeln mit der Liebe ja wie mit einem Kleidungsstück. Und zudem, was glauben Sie, wie viele Liesbeths es in meinem und vor allem auch in Herrn Favells Leben wohl gibt?

Ich weiß es nicht, sagt Liesbeth, ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit auf jeden Fall nicht weiterhelfen. Ich bin nicht die Liesbeth, die Sie suchen, verstehen Sie?

Jonas wird ungeduldig. Wissen Sie, ich glaube, Sie sagen mir nicht die Wahrheit. Sie müssen mir hier nichts vormachen. Ich bin lediglich der Nachbar, der diesen Brief für Herrn Favell aushändigt. Und es ist mir ganz egal, was zwischen Ihnen und Favell vorgefallen ist, Sie müssen mir hier keine Rechenschaft ablegen. Ich bitte Sie nur, diesen Brief an sich zu nehmen und ihn mit Respekt zu behandeln.

Und wissen Sie, was ich glaube, sagt Liesbeth: Sie wollen mich einfach nicht verstehen. Ich mache Ihnen nichts vor, ich sage Ihnen noch einmal: Ich kenne diesen Menschen nicht, überhaupt nicht! Er sagt mir nichts, nicht das Geringste. Er, sein Name und seine Gefühle. Dieses Individuum ist einfach nur eine Hülle für mich, nicht existent. Eine Hülle, mit einem Namen und einer Adresse versehen, mehr nicht. Ich weiß nicht, wovon er spricht, wovon er schreibt, mir ist das alles ganz furchtbar fremd, so fremd, dass ich, und jetzt passen Sie auf, ich wollte es für mich behalten, aber wenn Sie schon so hartnäckig sind, dann sage ich es jetzt auch, dass ich regelrecht unberührt von seinen liebestriefenden, gefühlsüberquellenden Zeilen bin. Ich bin gänzlich unberührt davon. Sie lösen nichts in mir aus, gar nichts. Da ist einfach nichts! Und es ist herrlich, so überaus herrlich! Ich muss mich nicht damit auseinandersetzen, ich habe mit alledem nicht das Geringste zu tun! Wissen Sie, wie befreiend sich das im Moment gerade anfühlt? Es fühlt sich so unglaublich gut an, dass ich absolut nichts zu dieser Liebe beizutragen habe, ja beitragen kann!

Sehr gut, wunderbar, fabelhaft, sagt Jonas, jetzt wundert mich gar nichts mehr! Jetzt wundern mich Herrn Favells Zeilen noch weniger als vorher! Sie sind eine emotionslose Person, Sie haben ihn zugrundegerichtet und es ist nur zu verständlich, dass er Schaden daran genommen hat. Sie hätten ihm das nicht antun dürfen, wissen Sie das? Stellen Sie sich vor, man würde das mit Ihnen machen. Sind Sie denn überhaupt in der Lage, sich in eine solche Situation hineinzuversetzen? Oder gehen Sie immer so unbedacht durchs Leben? Sie rollen ja wie ein Stein durchs Gefühlsleben ihrer Mitmenschen, erstaunlich ist das!

Oh, ich habe es hier wohl mit einem glühenden Verfechter der aufopfernden Liebe zu tun. Mit einem durch und durch guten Menschen, der seinem alternden Nachbarn noch einmal zu einer kleinen Freude im Leben verhelfen will, sagt Liesbeth angefressen. Ich finde das äußerst nett von Ihnen, unglaublich nett sogar, glauben Sie mir, nur, lassen Sie mich in Ruhe damit! Wie komme ich dazu, mich um Ihren Nachbarn kümmern zu müssen? Ich bin nicht vom Pflegepersonal, Ihr Nachbar interessiert mich nicht! Glauben Sie denn, ich hätte nichts in meinem Leben zu bewältigen? Glauben Sie, Ihr Nachbar ist der Einzige, dem es so geht? Der sich nach etwas verzehrt, das er nicht erreicht hat? Das er vielleicht deshalb nicht erreicht hat, weil er maßgeblich an dessen Scheitern beteiligt war? Und jetzt steigert er sich in etwas hinein, das nicht vorhanden ist, das nie der Wahrheit entsprochen hat. Jetzt konstruiert er sich etwas, um mit seinen Schuldgefühlen und dem eigenen Versagen besser fertigzuwerden. Ihrem liebenswerten Nachbarn ist, offensichtlicherweise, die Realität abhandengekommen. Und zwar ganz und gar! Und Sie verteidigen ihn noch! Sie glauben ihm mehr als mir. Und dabei frage ich Sie: Wie gut kennen Sie ihn denn? Sie, der Sie sich so aufopfernd für ihn einsetzen? Haben Sie sich jemals eingehender mit ihm auseinandergesetzt? Haben Sie Zeit mit ihm verbracht? Haben Sie womöglich nur ein schlechtes Gewissen, dass Sie das nie getan haben? Und jetzt, da Sie erkannt haben, wie einsam er ist in seinem Leben, versuchen Sie, etwas zu retten, was schon längst nicht mehr zu retten ist!

Was nun, wenn ich die Wahrheit sage? Wenn ich diesen Mann nie kennengelernt habe, wenn er mich vielleicht irgendwann einmal gesehen, aber nie angesprochen hat? Könnte doch sein? Wenn er sich über die Jahre einfach nur eine Fantasie zurechtgerichtet hat, um ein wenig Abwechslung in sein gleichförmiges Leben zu bringen? Was ist, wenn es sich so zugetragen hat? Denken Sie doch einmal über diese Option nach. Und glauben Sie mir, ich habe meine eigenen Liesbeths, mit denen ich im Leben fertig werden muss. Jeder hat irgendwelche Liesbeths in seinem Leben! Es gibt mehr als genug davon, mehr, als Sie sich vorstellen können. Und das sage ich Ihnen. Ich als Liesbeth sage Ihnen das. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Liesbeths, ich kümmere mich um meine. Und nun lassen Sie mich in Ruhe damit, ich habe zu tun, sagt sie und wirft Jonas die Tür vor der Nase zu.

 

Zwei Tage später denkt Jonas noch immer über den Vorfall nach. Ein wenig ärgert er sich darüber, ein wenig ist er auch verunsichert, wem er nun glauben soll. Dieser cholerischen, emotionslosen Person namens Liesbeth oder seinem geistig womöglich etwas umnachteten Nachbarn. Letztendlich, denkt Jonas, ist es doch gleichgültig, wem ich glaube. Letztendlich geht es nicht darum, wie es sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Ob Favell Liesbeth jemals kennengelernt oder einfach nur heimlich und glühend für sie geschwärmt hat, sein ganzes Leben lang. Denn in einem Punkt hatte die Frau wohl recht: Jeder hat eine Liesbeth in seinem Leben, ganz ausnahmslos jeder.

Jonas nimmt also den Brief, geht in Favells Wohnung, setzt sich an dessen Schreibtisch, ein Blatt Papier zurechtgerichtet, und macht das, was Favell in dieser Situation wohl erwartet hätte: Er verfasst eine Antwort. So schwer kann das doch nicht sein, überlegt er, und beginnt schließlich zu schreiben:

Lieber, lieber Artur,
ich habe deinen Brief erhalten. Dein Nachbar war so nett, ihn mir zu geben. Er meinte, es läge in deinem Interesse, dass ich diese Zeilen lese. Wie sehr ich mich darüber gefreut habe. Wie wenig ich damit gerechnet habe, nach all den Jahren! Glaube mir, Liebster, darf ich dich so nennen? Ich mache es nun einfach, weil mir danach ist, glaube mir, Liebster, sie trafen mich ganz und gar unerwartet.

Die Liebe nämlich, geschätzter Artur, die Liebe ist ein Kleidungsstück, das man jemandem überstreift und irgendwann wieder von diesem Jemand abzieht, um es an anderer Stelle von Neuem anzupassen. Manchmal passt es wie angegossen, vom ersten Augenblick an, während es ein anderes Mal einfach nicht recht sitzen will, so sehr man auch daran zieht und zupft. Obwohl es doch nicht am Kleidungsstück liegen kann, denn das verändert sich ja nie, es bleibt immer gleich. Verstehst du, was ich meine? Aber was schreibe ich denn da eigentlich.