Am Morgen des fünften November holten drei Wecker Herrn August Kämmerlein aus seinem Bett. Das vollzog sich dergestalt und hatte schwerwiegende Folgen:

Als der erste Wecker um sechs Uhr fünfzehn klingelte, war es draußen noch dunkel. August Kämmerlein, der in diesem Moment, aus seinem Traum gerissen, ein wenig zu sich kam, öffnete sein rechtes Auge spaltweit, fixierte das klingelnde Ding, das drei Meter abseits des Bettes stand, entzog seinem Kopf das Kissen und brachte es damit zum Schweigen. „Lärmkiste, dämliche“, brummte er. Draußen regnete es, die Reifen der vorbeifahrenden Autos zogen nasse Spuren in die Ruhe des Morgens. Herr Kämmerlein dachte nicht ans Aufstehen.

Als der zweite Wecker, der auf der Kommode an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers stand, um sechs Uhr zwanzig klingelte, und August Kämmerlein weder ein Kissen noch einen so langen Arm zur Verfügung hatte, um dem Ding den Gar auszumachen, riss er sich das Pyjamaoberteil vom Leib, fluchte und schimpfte und schoss den Flanelllappen mit unglaublicher Zielstrebigkeit und Treffsicherheit durchs dunkle Zimmer. Wieder war es ruhig.

Um sechs Uhr dreißig klingelte schließlich der dritte Wecker, der auf einem kleinen, runden Tisch zwei Meter abseits des Bettes in Kopfhöhe stand. Der Tisch, der einmal Servierwagen war, hatte Rollen an den Füßen, und August Kämmerlein hatte mittlerweile eine ungeheure Wut. Er riss das Bettzeug beiseite, schwang sein Bein mit enormem Elan nach hinten, dann gleich wieder nach vorn, vollführte dadurch eine halbseitige Hüftdrehung, die ihn aus dem Bett katapultierte und seinen Fuß pfeilesgleich auf das klingelnde Monster zufahren ließ. Es schepperte heftigst, als Herrn Kämmerleins großer Zeh gegen den Servierwagen prallte, sein nackter Oberkörper zeitverzögert auf dem harten Parkett aufschlug, der Servierwagen von der Wucht des Aufpralls in Fahrt gesetzt wurde, gegen die Stehlampe im Rokoko-Stil krachte, diese daraufhin zu pendeln begann, zu wanken wie ein Kreisel, das Gleichgewicht verlor und schließlich auf den am Boden liegenden August Kämmerlein stürzte.

Zwei Stunden später wurde dieser wieder wach, etwas schwach in den Gliedern und mit schmerzendem Kopf. Die vielen Wecker um ihn tickten friedfertig, schoben ihre Zeiger, als wäre nichts vorgefallen, ein ums andere Mal geschmeidig um die Runden und zeigten eine Zeit, die keine mehr war, weil sie schon längst hinter allem lag, weil sie Herrn Kämmerlein mit dem, dass sie trotz ihrer Unmöglichkeit noch immer da war, verspottete: Es war sechs Uhr dreißig.

Herr Kämmerlein richtete sich auf, brachte die Unordnung im Zimmer in Ordnung und schleppte sich an den Weckern vorbei auf den Flur. Irgendetwas Merkwürdiges war geschehen, er wusste nur nicht mehr was. Er hatte jedoch das unbedingte Bedürfnis, etwas zu erledigen, was er schon lange erledigen wollte. Und heute war der Drang stärker denn je, er musste sich diesem ergeben: Er musste die Zeit aufhalten, die immer gegen ihn lief, sie endlich zum Stillstand bringen. Er würde sich, wenn notwendig, mit aller Kraft an den großen Uhrzeiger hängen und dagegen drücken. Er würde die Sieben mit der Fünf vertauschen, das Ziffernblatt neu definieren, dem Kuckuck kräftig eins überziehen. Er würde alles tun, nur um den Kampf mit der grässlichen Zeit und ihren mickrigen Adjutanten in Form dieser lächerlichen Klingelbeutel aufzunehmen.

Und wie ließ sich die Zeit am besten aufhalten? Kämmerlein wusste, was zu tun war: Er musste die Zeit totschlagen, so dermaßen tot, dass sie sich auch nicht die Spur von einer Sekunde mehr von der Stelle bewegt hätte. Dass ihre Minuten, Stunden, Tage nur mehr lächerliche leere Hülsen verpulverter Munition wären. Dass es sich ausgeschossen hätte – ein für allemal! Das machte Herr Kämmerlein. Er setzte sich in seinen Lesestuhl ans große Fenster und schlug die Zeit tot.

Wenn die Zeit erst einmal totgeschlagen war, überlegte Kämmerlein, gab es nichts mehr zu erledigen, weil sich ohne Zeit nichts mehr erledigen ließ, weil alles Zeit brauchte, ausnahmslos alles. Doch die Zeit war tot, hatte sich verflüchtigt, auflöst und war als transzendentales Wesen wieder auf die Erde zurückgekehrt: als Zeitgeist. Danach strebten dann alle, weil es etwas Magisches hatte, dieses Nichts, das mit untrügerischer Hartnäckigkeit über allem hing und es flächendeckend unter sich beerdigte wie Kämmerleins Flanelllappen den Sechs-Uhr-Zwanzig-Wecker. Die letzte Stunde hatte gerade geschlagen, und bald gab es kein Hier mehr, kein Jetzt, kein Heute und kein Morgen.

Hätte die Zeit zu diesem Zeitpunkt noch tadellos funktioniert, hätte man sagen können, es wäre so ungefähr gegen Mittag gewesen, als es wieder zu regnen begann und Herr Kämmerlein beim Anblick der saftigen Tropfen Hunger und Durst bekam. Er nahm, was sich gerade in Reichweite befand: eine Tafel Ganznussvollmilchschokolade. Mit den Zähnen buhlte er die vollen Ganznüsse aus der zarten Schokolade und verschlang sie gierig, während er durchs Fenster glotzte und dem Nieselregen beim regelmäßigen Nieseln zusah. Als sich die letzte süße Schokoflocke in seinem Mundraum in nichts aufgelöst hatte wie die Zeit nach ihrem Totschlag, nahm er das leere Papier, formte es zu einem Knäuel, öffnete das Fenster und warf es hinaus. Beharrlich zog es seine Bahn nach unten. Vielleicht landete es am Straßenrand, vielleicht fiel es durch einen Kanaldeckel noch tiefer, vielleicht traf es den Kopf irgendeines gelangweilten Passanten. Peng. Kopfnuss durch Ganznussschokoladenpapier. Das saß.

Nach längerem Dasitzen, das zeitlich nicht mehr fassbar und definierbar war, weil Herr Kämmerlein die Zeit ja gerade totschlug, musste er sich eingestehen, dass seine neue Mission etwas Ermüdendes hatte. Er wusste, dass es bald kein Bald mehr gab, auch kein Später oder Danach. Und wenn es kein Danach mehr gab, konnte es gar nicht anders sein, als dass der Vorgang des Zeittotschlagens ewig dauerte. Doch was war schon ewig, wenn kein Gegensatz mehr existierte, kein Zeitlich-Begrenzt, kein Sterblich, kein Ablaufdatum? Herr Kämmerlein machte sich Sorgen.

Als der Regen plötzlich nachließ, wurde er unruhig. Ohne Niesel im Regen war der Tag richtig inhaltslos. August Kämmerlein erschrak bei dieser Feststellung: Welchen Tag meinte er? Wenn es keine Zeit mehr gab, gab es auch keinen Tag und keine Nacht mehr. Es gab keine Zeitzeugen, weil niemand etwas bezeugen konnte, was nicht da war. Keinen Zeitdruck, weil es sich gleich verhielt wie mit Schuhen, die man nicht trug. Keine Zeitbomben, weil nichts, was unaufhörlich tickte, gefährlich sein konnte. Bald würde die Zeit nur mehr Geschichte sein, dachte er. Bald würde nicht einmal mehr eine Zeitlupe ausreichen, um sie zu finden. Dann herrschte Zeitmangel auf der Welt, richtige Zeitnot sogar. Wertvolle Aufzeichnungen würden entstehen, sogenannte Zeitschriften, die das verloren gegangene Phänomen in ihren Einzelheiten beschrieben. Die Zeit würde den Menschen fremd geworden sein. Sie träfen sich nur mehr zufällig, wenn überhaupt. Schliefen nur mehr zufällig, wenn überhaupt. Lebten nur mehr zufällig, wenn überhaupt. Herr Kämmerlein wurde ernsthaft nervös. Er versuchte, sich abzulenken.

Doch es half nichts. Er wusste nicht mehr, was heute Morgen, das es nun nicht mehr gab, was einst, vorher, das es nun auch nicht mehr gab, was eben damals, das kein Damals mehr war, was mit ihm passiert war. Er riss das Fenster auf und steckte seinen Kopf in die gute, frische Regenluft. Er durfte die Zeit nicht totschlagen, wurde ihm plötzlich bewusst. Wenn er so weitermachte, hatte er sie bald vertrieben. Er war ein Zeitvertreiber, und wenn die Welt erst einmal frei von Zeit war, war er, August Kämmerlein, verantwortlich und schuldig für den Anbruch eines neuen Zeitalters, das kein Zeitalter mehr war, sondern, logischerweise, ein Freizeitalter.

Er schloss das Fenster wieder, sprang vom Stuhl und beschloss, die Zeit zu reaktivieren. Er nahm die Wanduhr von der Wand, legte sie auf den Boden und ging eine Stunde im Kreis. „Wie kompliziert das alles ist“, murmelte er, „Zeit vergeht wie Schokolade auf der Zunge. Was bleibt, ist die volle Ganznuss. Das Harte, das Fette, das Ungesunde. Da lob ich mir doch das leicht bekömmliche Niesel! Zap an der Optik vorbei und platsch auf den Boden. Oder gleich auf den Kopf. Dann ohne zap einfach nur platsch. Platsch, platsch, zing: Niesel hat Brillenglas gestreift. Hinterlässt ein Schnürl —“, philosophierte er, als plötzlich das Telefon klingelte.
Er nahm den Hörer ab, „ja, was ist?“, fragte er.
„Nichts“, antwortete die Stimme am anderen Ende.
„Wie nichts?“, fragte Kämmerlein. „Wer ist da?“
„Der Passant ist da“, antwortete die Stimme.
„Welcher Passant?“, fragte Herr Kämmerlein, „Ich kenne keinen.“
„Noch nicht“, sagte die Stimme und lachte, „aber bald!“ „Das Ganznussschokoladenpapier, Sie verstehen? — Wie stellen Sie sich das jetzt vor?“
Herr Kämmerlein war verwirrt. „Wie stelle ich mir was vor?“, fragte er.
Die Stimme: „Na, Sie wissen schon. Ich gehe durch die Straße bei Niesel, plötzlich von oben: peng, zing, patsch.“
– Ruhepause –
Eine Minute wanderte ohne Eile im Kreis. Ein leises Tick, Tack vibrierte um Herrn Kämmerleins Füße. Die Zeit, sie floss wieder! Herrn Kämmerlein fiel ein Stein vom Herzen, beruhigt fragte er: „Oh! Hab ich getroffen?“
„Und wie“, meinte die Stimme, „und wie, die volle Nuss!“
„Gratuliere“, sagte Herr Kämmerlein zu sich, „der Tag scheint sich zu bessern.“
„Und was jetzt?“, fragte die Stimme weiter. „Ich verlange Satisfaktion!“
„Nun gut“, meinte Herr Kämmerlein und überlegte einen Moment: „Sie bekommen Satisfaktion. Der Selbstbehalt ist allerdings abzuziehen. Was halten Sie Ihre doofe Birne auch in meine aerodynamische Ganznussflugbahn.“
„Goldig“, lachte und grunzte die Stimme und fragte: „Wie viel?“
„In zehn Minuten“, antwortete Herr Kämmerlein und jauchzte unwillkürlich auf, er sagte tatsächlich in zehn Minuten, er war wieder im Zeitraum. „Zwei Euro, gleiche Flugbahn. Wetter ist gut. Kein Niesel, keine anderen Objekte. Und vergessen Sie Ihren Helm nicht! Sie wissen ja: zing, peng“, fügte er hinzu und lachte.
„Blödes Arschloch“, sagte die Stimme.

„Sind Sie bereit?“, fragte Herr Kämmerlein. „Die Zeit läuft gegen Sie, ab jetzt!“ Nun war er wieder ganz der alte Kämmerlein – mit dem Zeitdruck im Nacken, der Uhr unterm Kopfkissen und dem Ticken im Ohr. Er fühlte sich wohl.
„Warten Sie noch!“, schrie die Stimme am anderen Ende der Leitung, als Herr Kämmerlein schon auflegen wollte.
„Was ist?“, fragte er.
„Interessiert es Sie nicht, was ich mir von Ihrem Satisfaktionsbetrag kaufe?“
„Nein“, antwortete Herr Kämmerlein, „kein bisschen.“
„Aber ich sag’s Ihnen trotzdem, passen Sie auf: Ich kaufe mir einen Colalutscher. Jawohl! Einen läppischen, hundsgewöhnlichen Kindercolalutscher. Und ich tanze dazu“, sagte die Stimme und lachte.
August Kämmerlein legte auf.

Dann ging er zehn Kreisminuten um die Wanduhr, die am Boden lag. Minute neun, Sekunde fünfzig stürmte er zum Fenster, öffnete es und warf die Münze nach unten. Zing, peng, aua! Treffer! Er rieb sich die Hände, lachte wie das Rumpelstilzchen und hüpfte dazu. Dann setzte er sich von neuem in seinen Stuhl und schaute in den Tag. Das Niesel zelebrierte sich mittlerweile wieder kräftig von oben nach unten. Die Wanduhr, die noch immer am Boden lag, tickte ihm die Füße wund. Er hob sie auf, nestelte am Glas und drehte den großen Zeiger zwei, drei, vier Stunden nach vorn. Er nestelte und drückte und murkste und drehte und plötzlich – zack, tock – knallte etwas gegen die Fensterscheibe.

Erschrocken sprang er aus seiner Trance, wieselte in die hinterste Ecke des Zimmers, kauerte sich zusammen auf die Größe einer reifen Ganznuss und wartete ab. Dann überlegte er: Hatte vielleicht jemand sein Zeitattentat bemerkt? Hatte er es mit aufgebrachten Zeitgenossen zu tun, die vor seinem Fenster Front gegen ihn machten, die sich gegen zeitraubende Maßnahmen zur Wehr setzten? Er wollte mit seiner Aktion doch nur einen Zeitpunkt setzen, auf die Missstände aufmerksam machen, denen er jeden Morgen ausgeliefert war. Natürlich, er war zeitkritisch, das gab er zu. Herrn Kämmerlein kroch die Angst mit einem fiesen Kitzeln über den Rücken. Verstört starrte er zum Fenster. Dann sah er keinen anderen Ausweg mehr und schrie mit voller Stimme durchs geschlossene Fenster: „He, ihr da! Ich weiß, ich war nicht zeitgerecht. Doch ich verspreche euch: Der Zeitausgleich ist schon gemacht und ab jetzt wird alles Zeitliche gesegnet! Hoch und heilig. Hört ihr?“ Doch es rührte sich nichts. Keine Zeitgenossen, keine randalierenden Zeitrafferbanden.

Das Niesel zelebrierte sich in luftig-lustigen Schnürln wie eine Karnevalsverarschung durch sein Wahrnehmungsfeld, der Himmel war grau, die Welt draußen schien friedlich, die Bedrohung vorbei. Langsam kroch Herr Kämmerlein wieder aus seinem Versteck, näherte sich dem Fenster, pirschte sich auf allen Vieren an, als er plötzlich eine merkwürdige Entdeckung machte: Da, da war doch etwas, dieses dunkle Irgendwas, dieses Ding, dieses — Was klebte da an seiner Fensterscheibe? Tickte es? Hatte es einen Zeitzünder? Würde er, August Kämmerlein, gleich ein Stück Zeitgeschichte schreiben. Hatte er es nicht schon längst geschrieben? Oder sie? Er kam näher, zaghaft, er schaute, er zoomte seine Pupillen auf die Größe eines mittleren Fernrohres, er schnüffelte, er roch, und dann erkannte er: Es war, er glaubte seinen Augen kaum, es war — Als der erste Wecker um sechs Uhr fünfzehn klingelte, war es draußen noch dunkel. August Kämmerlein, der in diesem Moment, aus seinem Traum gerissen, ein wenig zu sich kam, öffnete sein rechtes Auge spaltweit, fixierte das klingelnde Ding, das drei Meter abseits des Bettes stand, entzog seinem Kopf das Kissen und brachte es damit zum Schweigen. „Lärmkiste, dämliche“, brummte er. Draußen regnete es, die Reifen der vorbeifahrenden Autos zogen nasse Spuren in die Ruhe des Morgens. Herr Kämmerlein dachte nicht ans Aufstehen.