Elfriede heißt die Frau aus dem zweiten Stock. Sie trägt gerade den Müll raus. Anna sitzt hinter der Gardine und sieht ihr dabei zu. Jetzt bleibt Elfriede an der Tonne stehen, hebt den Deckel und schaut hinein. Dann stellt sie ihre Mülltüte beiseite und greift mit einer Hand in die Tonne. Langsam verschwindet ihr Oberkörper darin, bis zur Taille hängt sie nun in der dunklen Öffnung. Der weite Rock rutscht ihr über die Knöchel, die Waden, als plötzlich das Telefon läutet. Anna muss mich entscheiden. Elfriede oder Telefon. Sie entscheidet sich für das Telefon.

Erna ist dran. Aus dem ersten Stock. „Du, schau mal aus dem Fenster“, sagt sie, „die Elfriede hängt bis zur Taille in der Mülltonne. Was die wohl sucht?“

„Ich weiß“, sagt Anna, „keine Ahnung, was sie sucht. Vielleicht ist ihr was reingefallen?“

„Das glaub ich nicht“, sagt Erna, „ich sitz jetzt schon seit zehn Minuten hier am Fenster und die Elfriede ist erst vor einer Minute aus dem Haus gekommen und ganz entschlossen auf die Mülltonne zugesteuert. Hat nicht ausgesehen, als wär ihr was reingefallen. Merkwürdige Person.“

„Ja, sehr merkwürdig. Was macht sie denn jetzt?“, fragt Anna. Dummerweise kann sie nichts mehr sehen. Sie steht ja im Flur am Telefon. Festnetz, wohlgemerkt. „Ist sie noch drin?“

„Jaja“, sagt Erna, „ist sie. Unverändert. Oder fast ein bisschen weiter als vorhin. Du, ich sag’s dir, die rutscht bald ganz in die Tonne, wenn das so weitergeht. Stell dir das mal vor! Die Elfriede in der Tonne vor unserem Haus!“ Erna kichert. „Und dann kommt die Müllabfuhr und holt die Elfriede. Und keiner merkt, dass sie nicht in die Tonne gehört. Weil ja sowieso niemand Müll trennt. Die Elfriede nicht und du nicht und ich auch nicht.“

„Na ja, Erna, theoretisch wär’s schon möglich, dass sie mitgenommen würde“, sagt Anna. „Aber heute ist doch erst Montag, oder?“ „Ja, wieso?“

„Weil sie dann ja noch bis freitags unbemerkt in der Tonne stecken müsste, bis sie mitgenommen würde. Und das ist lang.“

„Bis freitags in der Tonne“, überlegt Erna, „das ist wirklich lang. Bist du sicher, dass die Müllabfuhr erst freitags kommt?“

„Natürlich bin ich sicher“, sagt Anna, „die kommt immer freitags und ist immer freitags gekommen.“

„Na ja, immer“, sagt Erna, „was heißt das, immer. Ich bin mir sicher, als Ulrich noch lebte, da ist die Müllabfuhr nicht freitags gekommen. Da ist sie vielleicht schon mittwochs gekommen. Und das wäre besser für die Elfriede. Dann müsste sie nicht so lange in der Tonne stecken.“

„Woher willst du denn wissen, dass die Müllabfuhr zu Ulrichs Zeiten am Mittwoch gekommen ist? Das kann jetzt stimmen oder auch nicht. Da könnte sie ja genauso gut dienstags oder donnerstags gekommen sein. Oder montags.“

„Oh weia, montags“, sagt Erna, „da wäre sie ja schon da gewesen. Und hätte die Elfriede ganz vergessen.“

„So gesehen“, sagt Anna, „stimmt. Aber vielleicht war die Elfriede ja schon in der Tonne, als die Müllabfuhr gekommen ist. Und die hat sie nun auch schon mitgenommen. Und das, was wir jetzt sehen, ist bloß eine Zeitverzögerung.“

„Wie“, fragt Erna, „das versteh ich jetzt nicht. Du meinst, die Elfriede hat tatsächlich schon in der Tonne gesteckt, als die Müllabfuhr gekommen ist? Und die haben sie auch mitgenommen? Und jetzt steckt sie nicht mehr in der Tonne und die Müllabfuhr kommt auch erst wieder in einer Woche, nur wir sehen das nicht?“

„Ja, genau“, sagt Anna. „Wär’ doch möglich. Wir sehen es halt nicht. Die Tonne ist leer, Elfriede pro forma, für uns, noch mal aus dem Haus gegangen, mit Mülltüte. Aber eigentlich ist sie schon weg. Entsorgt.“

„Aha“, sagt Erna, „da hast du gar nicht so Unrecht. Das könnte tatsächlich sein. Aber was nun, wenn die Müllabfuhr zu Ulrichs Zeiten nicht montags, sondern doch erst mittwochs gekommen ist? Dann würde die Elfriede jetzt schon in der Tonne stecken und möglicherweise könnten wir sie dann noch gar nicht sehen, weil ja die Zeitverzögerung dazukäme und die Elfriede somit erst dienstagnachmittags oder gar erst mittwochmorgens zu sehen wäre. In der Tonne.“

„Tja, das stimmt nun auch wieder“, sagt Anna, „bist du dir denn sicher, dass die Müllabfuhr zu Ulrichs Zeiten montags gekommen ist? Ich mein, das müsste dann doch einer der Elfriede sagen, damit sie nicht zu spät aus dem Haus geht!“

„Nein, nein, nein. Ich bin mir eben nicht sicher, ob es nun montags oder dienstags oder gar mittwochs gewesen ist“, sagt Erna. „Ich könnte aber Herrn Gärtner aus dem vierten fragen. Der müsste das wissen.“

„Warum soll Herr Gärtner wissen, wann zu Ulrichs Zeiten die Müllabfuhr gekommen ist? Der ist doch erst lange nach Ulrichs Tod eingezogen.“

„Ja ja, das schon“, sagt Erna, „aber der ist mindestens gleich alt wie Ulrich. Wenn nicht älter. Und da müsste er theoretisch doch wissen, wann die Müllabfuhr gekommen ist. Zu Ulrichs Zeiten.“

„Na ja, ich weiß nicht“, sagt Anna, „den Gärtner finde ich nicht gerade sympathisch. Der hatte doch mal eine Liaison mit der Frau Dings aus dem Nachbarshaus. Die ist ständig hier aufgekreuzt. Jeden Tag um vierzehn Uhr hat sie bei ihm geklingelt. Pünktlichst.“

„Ja, ich weiß“, sagt Erna, „um 13.55 Uhr hat sie ihr Haus verlassen, jeden Tag, und ist über die Straße stolziert. Dieses aufgedonnerte Weib. Das wussten ja alle hier. Die Helbigs von gegenüber und die Adams aus dem zweiten. Und der Herr Gärtner hat auch keinen Hehl daraus gemacht. Unglaublich, in seinem Alter.“

„Ja, unglaublich“, sagt Anna. „Der hätte sich mit dem Ulrich nicht vertragen. Wenn die beiden sich gekannt hätten, das wäre nicht gut gegangen. Der Ulrich so ein anständiger Mensch. Und der Herr Gärtner …“

„Ja, da hast du Recht. Der Ulrich war ein sehr vornehmer Mensch, sehr vornehm. Oder altmodisch, kann man auch sagen. Vielleicht war er einfach nur altmodisch. Und ich glaube jetzt fast, mich erinnern zu können, dass die Müllabfuhr erst sonntags gekommen ist. Zu Ulrichs Zeiten“, sagt Erna plötzlich.

„Sonntags? Warum denn jetzt ausgerechnet sonntags?“

„Na, weil ich Ulrich öfter mal sonntagvormittags mit Mülltüte im Treppenhaus begegnet bin, wenn ich von meinem Morgenspaziergang kam.“

„Und du bist nur sonntags spaziert?“

„Ja, nur sonntags“, sagt Erna, „weil sonntags um den Block nichts los war. Sonntag war der ideale Tag für einmal um den Block. Alle waren auswärts. Die Familien mit den Kindern, die jungen Menschen, die Liebespaare. Nur ich war hier. Und der Ulrich. Ja, es war sonntags. Die Müllabfuhr ist sonntags gekommen.“

„Das würde ja für die Elfriede bedeuten, dass sie es möglicherweise auf die gestrige Müllabfuhr noch geschafft hat, wenn sie früh genug gekommen ist“, sagt Anna.

„Möglicherweise“, sagt Erna, „ich glaube fast.“

„Das ist gut, sehr gut. Aber eines ist doch komisch daran.“

„Was denn?“, fragt Erna.

„Die Müllabfuhr kommt normalerweise doch nie sonntags.“

„Na ja“, meint Erna, „da hast du schon Recht. Es ist natürlich Sonntag gewesen wie heute Montag ist. Und ich bin dem Ulrich begegnet mit Mülltüte, als ich vom Spaziergang kam, aber mit der ganzen Zeitverschiebung, man weiß ja nie, kann’s theoretisch natürlich auch freitags oder samstags gewesen sein.“

„Aha“, sagt Anna, „das leuchtet mir ein. Dann stehen die Chancen ja wirklich sehr gut für die Elfriede.“

„Jaja, ausgezeichnet“, sagt Erna.

Anna verabschiedet sich, legt den Hörer auf und geht durch den Flur und das Wohnzimmer wieder an ihren Platz am Fenster zurück.

Die Mülltonne draußen ist leer, der Deckel offen. Und von der anderen Straßenseite kommt Herr Habermann mit seinem Dackel des Weges. Plötzlich ein Auto von links, die Reifen quietschen, Herr Habermann springt gerade noch zur Seite, der Dackel jault. Der Dackel jaulte, hatte gejault, man hatte ihn jaulen hören, klar und deutlich, und der Habermann hatte mitgejault, nicht weniger klar und deutlich, als erneut das Telefon klingelt.